Frühneuzeitliche Institutionen in ihrem sozialen Kontext. Praktiken lokaler Politik, Justiz und Verwaltung im internationalen Vergleich

Zwischenbericht (Januar 2003)

Im Rahmen des Forschungsvorhabens werden die gerichtliche und die administra­tive Praxis in einer tschechisch-böhmischen, einer ungarischen und einer deutschen Region im Zeitalter des Absolutismus vergleichend untersucht. Das Projekt zielt darauf ab, Gemeinsamkeiten und spezifische Unter­schiede innerhalb eines wichtigen Strangs der historischen Entwicklung in Mittel- und Südosteuropa herauszuarbeiten. Die Antragsteller gehen davon aus, dass die untersuchten Regionen – unbeschadet der Differenz zwischen eher stände­staatlichen oder  adelsdominierten Regionen in Böhmen wie in Ungarn und eher fürstenstaatlich verfassten Reichsterritorien – an der gemeineuropäischen Entwicklung rechtlicher und politischer Institutionen teilhatten. Im Zentrum der Analyse steht das Handeln von Personen, die in lokalen Institutionen des 17. und 18. Jahrhunderts tätig waren, genauer: amtliches und außer­dienstliches Handeln von Stadträten, Richtern und Beamten an lokalen Gerichten und in Verwaltungen von Territorial- und Gutsherrschaften.

In der Folge werden zunächst erste Ergebnisse der drei Regionalstudien vorgestellt; es schließen sich einige vergleichende Aspekte und ein Ausblick auf die weitere Arbeit an.

1. Lokale Macht in der böhmischen Herrschaft Neuhaus / Jindřichův Hradec (1560-1730)

a) Zentrale Institutionen im System lokaler Macht

Die wichtigsten örtlichen Machtzentren innerhalb der südböhmischen Herrschaft Neuhaus bildeten die obrigkeitliche Kanzlei der Herren von Neuhaus (und ihrer Nachfolger, der Slavatas und der Tscherniner) sowie der Rat der Stadt Jindřichův Hradec. Andere Institutionen, wie Zünfte und religiöse Bruderschaften, traten demgegenüber zurück. Die ausführlichen Instruktionen für die obrigkeitliche Kanzlei aus den Jahren 1614, 1630 und 1720 ermöglichen einen ersten normativen Zugang zu deren Dienstbetrieb. Die Regeln für die Arbeit des Magistrats sind den Instruktionen zu entnehmen, die Joachim Ulrich von Neuhaus im Jahr 1597 und Wilhelm Slawata in den Jahren 1610, 1626 und 1627 erlassen haben. Hinzu kommen die Ratsmanualbücher mit den Sitzungs­protokollen des Stadtrates, die bislang für die Jahre 1604 bis 1618 ausgewertet wurden. Diese normativen Quellen und die Schriftstücke aus dem Verwaltungsalltag vermitteln eine klare Vorstellung vom Betrieb der Behörden. Um die Frage­stellung des Projektes zur sozialen Einbettung des Handelns der obrigkeitlichen Amtsträger und der Mitglieder des Stadtrates zu beantworten, sind weitere Quellengruppen heran zu ziehen. Deren Auswertung wurde begonnen, die entsprechenden Arbeiten werden einen Großteil der Projektarbeit in den kommenden zwei Jahren ausmachen.

b) Amtsträger der obrigkeitlichen Kanzlei

Zunächst mussten die innerhalb des lokalen Machtsystems in Neuhaus tätigen Personen identifiziert werden. Begonnen wurde mit dem Personal der obrigkeitlichen Kanzlei im Neuhauser Schloss unter den letzen Herren von Neuhaus (1560-1604), den danach herrschenden Slawatas (1604-1691) und den ersten Tscherninern (1691-1733). Die Amtsträger der Kanzlei vermochten nicht zuletzt dank ihrer Verwandtschaftsbeziehungen auch schon vor 1620 – also vor der Niederschlagung des Aufstandes der Bürger von Neuhaus gegen Wilhelm Slawata während des böhmischen Ständeaufstands – einen bedeutenden Einfluss innerhalb der Stadt und in den umliegenden Landgemeinden auszuüben. Bis dahin trat jedoch der Stadtrat als eine weitgehend selbständige Institution auf. In den Jahren von 1620 bis 1626 dominierten die Oberbeamten der Herrschaft die Neuhauser Stadtverwaltung, weil in dieser Phase alle Beschlüsse des Stadtrats der Genehmigung der Kanzlei unterlagen. Auch nachdem die Stadt ihre Privilegien im Jahr 1626 zurück erhalten hatte, blieb es bei der zentralen Rolle der obrigkeitlichen Kanzlei für die inneren Geschicke der Stadt.

Um die Mitglieder der obrigkeitlichen Bürokratie im Dienst der Herren von Neuhaus und der Slawatas identifizieren und in ihrer Bedeutung einschätzen zu können, wurden die Amtsträger  in anderen südböhmischen und südmährischen Herrschaften der Herren von Neuhaus und der Slawatas mit ins Auge gefasst (Červená Lhota, Hluboká nad Vltavou, Kardašova Rečice, Nová Bystřice, Polná, Protivín, Stráž nad Nežárkou, Telč, Žirovnice). Dazu wurden vor allem die erhaltenen Korrespondenzen zwischen Amtsträgern sowie die Geld- und Naturalienrechnungen ausgewertet. Dadurch konnte ein Überblick über die Personalstruktur der Kanzleien in den Herrschaftszentren Jindřichův Hradec, Hluboká nad Vltavou, Nová Bystřice und Telč gewonnen werden. Gleichzeitig ermöglichte das Vorgehen die Rekonstruktion der Karrieren von führenden Amtsträgern im Rahmen des gesamten Dominiums. Für die Jahre 1560 bis 1690 ist es bisher gelungen, circa 200 obrigkeitliche Beamten zu identifizieren. In den Jahren 1690 bis 1730 waren es etwa 30 Personen. Zur Zeit entsteht eine prosopographische Analyse, welche die üblichen Karrieren in Diensten der Obrigkeit, die Ausbildungsgänge, die Verwandt­schaftsbeziehungen, die Vermögenssituation, die Formen der Repräsentation und Standeserhebungen rekonstruiert. Dabei wird besonders auf personale Beziehungen zwischen Schloss und Stadt geachtet.

Gleichzeitig mit der prosopographischen Analyse wird auch die erhaltene wirtschaftliche und (in kleinerem Maß auch die private) Korrespondenz der Amtsträger untersucht. Es handelt sich um den Briefwechsel zwischen Adligen und Beamten in den einzelnen Herrschaften und um den Briefwechsel der Beamten untereinander. In der Slawata-Zeit geht es dabei vor allem um Briefe, die für die Oberbeamten der Herrschaft Neuhaus bestimmt waren. Vom Anfang des 18. Jahrhunderts sind dagegen Briefe aus der Neuhauser Kanzlei an die Tscherniner Zentral­verwaltung in Prag tradiert. Diese Korrespondenzen ermöglichen die Untersuchung der Kommunikation innerhalb des Dominiums; sie lassen den Einfluss der Obrigkeit auf die Situation in den Herrschaften erkennen. Die Korrespondenzen ermöglichen darüber hinaus eine Interpretation der informellen Beziehungen zwischen den Bürokraten und eine Rekonstruktion der Formen informeller Einflussnahme innerhalb der lokalen Konstellationen.

Die Amtsträger an der Spitze der obrigkeitlichen Verwaltung (Regenten und Oberhauptleute) nahmen während der ganzen Epoche eine Sonderstellung ein. Fast immer entstammten sie dem Adel. Sie nahmen ihren Wohnsitz entweder direkt im Schloss oder auf einem kleinen Gut in der Umgebung der Herrschaft, nie jedoch in der Stadt. In manchen Fällen ist zu belegen, dass sie bewusst Abstand zur Stadt und ihrer Bevölkerung hielten. Im Gegensatz zu anderen Beamten gingen sie keine Ehen mit Töchtern städtischer Bürger ein. Nicht völlig geklärt werden konnte bisher die Strategie der Obrigkeit bei der Karriere­gestaltung der obersten Amtsträger. Erst seit dem letzten Drittel des 17. Jahr­hunderts lassen sich regel­mäßige Versetzungen dieser führenden Beamten dokumentieren, die mehrere Herrschaften zugleich betrafen (1672, 1684, 1718, 1725). Einer der Gründe für diese Rotation war sicher, die entstandenen informellen Beziehungen zwischen den Spitzenbeamten und ihrem örtlichen Umfeld nicht unkontrollier­bar wuchern zu lassen. Aus persönlichen Quellen lässt sich die Sorge der betroffenen Amtsträger vor der drohenden Versetzung entnehmen, zugleich aber auch die Hoffnung, sich anschließend besser zu stellen.

Die Laufbahnen bürgerlicher Amtsträger im Dienste der Obrigkeit folgten anderen Strategien. Das Beispiel der Cech von Kozmačov legt die Vermutung nahe, dass das Amt des Bier­schreibers entscheidende Bedeutung hatte. Die Gründe dafür waren zweifellos ökonomischer Natur – es handelte sich um die Amtsposition, deren Inhaber mit der Verwaltung der größten Summen befasst waren. Die Stelle bot entsprechende Möglichkeiten der Bereicherung. Die systematische Untersuchung des städtischen Magistrats und der Amtsträger im Sold der Stadt Neuhaus steht noch aus; sie wird im Laufe des Jahres 2003 durchgeführt. Dass verwandt­schaftliche oder freundschaftliche Beziehungen im Konfliktfall Einfluss auf die Entschei­dungen des Stadtrats hatten, ließ sich jedoch durch die Auswertung der Ratsprotokolle aus den Jahren 1604 bis 1618 bereits nachweisen.

c) Verflechtung

Die systematische Analyse der Korrespondenz, ergänzt um Angaben aus den nur selten erhaltenen persönlichen Quellen (Wirtschaftskalender, Autobiographien), ermöglicht bisher für Einzelfälle die Interpretation der verwandtschaftlichen und nicht-verwandtschaftlichen Beziehungen, welche die obrigkeitlichen Beamten mit ihrer sozialen Umgebung verbanden. Bei den Beziehungen, die uns in den auf tschechisch verfassten Quellen als „gute Freund­schaft“ entgegen treten, handelte es sich nach den bisherigen Erkenntnissen um verschiedene Grade der Blutsverwandtschaft oder um erworbene Verwandtschaft (Verschwägerung, Patenschaft). Für nicht-verwandtschaftliche Verhältnisse benutzte man in den Quellen die Begriffe „Nachbar“, „Bruder“ und „Patron“. Besondere Bedeutung kam der Bruderschaft zu, die beim Ritual des „Trinkens auf Bruderschaft“ begründet und besiegelt wurde.

Diese Forschungen stehen noch am Anfang. Aufgrund der Quellenüberlieferung lassen sie sich nur für manche obrigkeitliche Amtsträger durchführen. Es ist jedoch bereits erkennbar, dass sich deren Beziehungsnetze nicht auf die Schlösser und Residenzen beschränkten, sondern auch in die Stadt Neuhaus und die Güter des niederen Adels in der Umgebung der Herrschaft erstreckten. Einige Korrespondenzen und Suppliken aus dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts, aus dem zweiten und vierten Viertel des 17. Jahrhunderts und endlich aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts lassen hoffen, dass auch die Entwicklungsdynamik der Verflechtung verfolgt werden kann.

Die bedeutsamste Position in der offiziellen Hierarchie und in den informellen Beziehungs­netzen kam den Hauptleuten zu. Sie nahmen die Suppliken an die Obrigkeit in Empfang, an sie hatte man Anträge um Minderung der Dienst- und Abgabenlast zu richten. Die meisten Alltagskontakte mit der Stadt pflegten jedoch die Schreiber oder Burggrafen. Diese Amts­träger wohnten in der Stadt, sie waren mit städtischen Bürgern verwandt und verschwägert, inklusive der Mitglieder des Magistrats. Ihre dienstliche Position war jedoch nicht so beschaffen, dass sie über Anträge von Bürgern an die Obrigkeit autonom entscheiden konnten. Aber sie konnten die Beschlüsse vermutlich positiv oder negativ beeinflussen. Diese Frage lässt sich bislang nicht abschließend beurteilen, denn es besteht die Möglichkeit, dass über solche Vorgänge die schriftliche Überlieferung fehlt: Es war nämlich erforderlich, den Hauptleuten ein Gesuch schriftlich zu unterbreiten, während man mit den niederen Beamten mündlich verhandeln konnte, schon aufgrund der Häufigkeit und Alltäglichkeit des Kontakts.

Sowohl für Neuhaus als auch für Telč lassen sich Beispiele finden für kleine verwandt­schaftliche Gruppen, denen es gelang, zu gleicher Zeit Positionen in den städtischen Gremien und in den obrigkeit­­lichen Kanzleien zu erringen (Cechs von Kozmačova, Eliášs-Piceks, Fučíks von Grünhof). Obwohl sie dank ihrer informellen Kontakte, Verwandtschafts­verhältnisse und Nachbar­schaftsbeziehungen die Stadträte oder die obrigkeitlichen Kanzleien beeinflussen konnten, errang niemand aus ihren Reihen die Stellung eines Hauptmannes. Dieses leitende Amt erscheint geradezu als ein von der Obrigkeit als Gegengewicht zu den städtisch-lokalen Interessengruppen konzipiertes Machtinstrument. Die einzige Ausnahme von diesem Muster bildete Matěj Eliáš aus der Telčer Eliáš-Picek-Gruppe, deren Mitglieder über mehr als fünfzig Jahre die obrigkeitlichen Ämter in Telč beherrschten. Um Hauptmann zu werden, musste jedoch auch Matěj Eliáš die Stadt Telč verlassen und nach Neubistritz wechseln, wo er über keinen persönlichen Anhang verfügte.

d) Ökonomische Aspekte der lokalen Machtverhältnisse

Die erhaltenen Quellen zur Ökonomie der Herrschaft und der Stadt Neuhaus ermöglichen eine Rekonstruktion des monetären Einflusses auf die Form der lokalen Machtverhältnisse. Bereits abgeschlossene Forschungsvorhaben über die Beziehungen des niederen Adels zum Hof der letzten Herren von Neuhaus haben die bedeutsame Rolle der Ritter als Kreditgeber der Neuhauser Herrschaft in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gezeigt. Künftig werden  weitere Beziehungen untersucht, die den niederen Adel aus dem Umland von Neuhaus mit der Obrigkeit und mit den führenden Amtsträgern der Kanzlei verbanden. Die Analyse der ökonomischen Aspekte lokaler Machtbeziehungen stand bisher nicht im Zentrum des Interesses; ihr wird im Jahr 2003 größere Aufmerksamkeit gewidmet. Es wird gezielt nach den Überschneidungsbereichen zwischen dem städtischen Haushalt, dem herrschaftlichen Wirtschaftsbetrieb und der Ökonomie einzelner Bürger bzw. obrigkeitlicher Amtsträger zu suchen sein (Kreditleistung, seine Freiwilligkeit oder Zwangsbeanspruchung, Kredit als Methode des Anknüpfens von Kontakten zum Hof etc.).

Unter den Gläubigern des obrigkeitlichen Wirtschaftsbetriebes finden sich Angehörige des niederen Adels aus der Umgebung, Magistratsmitglieder aus Neuhaus und aus anderen Mediatstädten, einzelne Bürger und auch obrigkeitliche Amtsträger. Unbeantwortet ist bislang die Frage nach der Bedeutung von Krediten innerhalb der lokalen Machtkonstellationen: Bildeten sie einfach eine gute Kapitalanlage, sind somit lediglich ein Indiz für das Vertrauen in die herrschaftliche Gutswirtschaft, haben jedoch keine außerökonomische Relevanz? Oder trugen potentielle Gläubiger Kreditangebote an die Herrschaft heran, um sie sich gewogen zu machen, in der Hoffnung, bei Gelegenheit Entscheidungen in ihrem Sinne beeinflussen zu können? Oder band gar die Obrigkeit die Bürger und Beamten mit Zwangsanleihen an sich und gewann so ein Mittel zu ihrer Disziplinierung? Diese Fragen werden vermutlich niemals abschließend zu klären sein, sind jedoch bei der Analyse von einzelnen Konflikten jeweils mit zu bedenken. 

Darüber hinaus vermag die Analyse des städtischen Haushalts zur Beantwortung von zwei Fragen beizutragen: Erstens, die Frage nach den Motiven für den Magistrat der Stadt, die Herrschaftsverwaltung in den Jahren des Aufstandes von 1618 bis 1620 vollständig an sich zu ziehen, zweitens, die Frage nach dem Grad der Subordination der Stadt unter die obrigkeit­liche Kanzlei in der Phase des ‚Gegenschlages’ der Herrschaft zwischen 1620 und 1626. Während genügend Quellen zur Untersuchung der obrigkeitlichen und der städtischen Haushaltsführung erhalten sind, verhindert das weitgehende Fehlen entsprechender Unterlagen die Untersuchung der Ökonomie von anderen wichtigen Institutionen in Neuhaus, namentlich des Jesuiten- und des Minoritenklosters. Etwas besser stellt sich die Situation für das städtische Hospital dar.

e) Konflikte

Machtkonstellationen lassen sich im Konfliktfall besonders gut erkennen, wobei Konflikte unterschiedlich weite Kreise ziehen und mehr oder minder eskalieren können. Im böhmischen Regionalprojekt werden sowohl recht alltägliche Auseinandersetzungen als auch politisch hochbrisante Kämpfe untersucht.

Ein Wechsel der Herrschaft (aufgrund von Verkäufen oder Erbfällen innerhalb der Magnaten-Familie) verursachte immer Konflikte unter den Amtsträgern. Sehr oft waren auch Ange­hörige des regionalen Niederadels, als den wichtigsten Klienten der Herrschaft, involviert. Eine klassische Situation ergab sich im Jahre 1589, als nach dem Tod des Zacharias von Neuhaus die Herrschaft Telč zurückfiel an die ältere Linie des Hauses unter Adam II. von Neuhaus. Fast zwei Jahre hindurch konkurrierten drei führende Amtsträger um die Dominanz innerhalb der obrigkeitlichen Verwaltung. Ein ähnlicher Konflikt ereignete sich 1604, als Wilhelm Slawata die Herrschaft Neuhaus übernahm. Er installierte ‚seinen’ Hauptmann in Neuhaus, was die bestehende Struktur der Ämter und die informellen Beziehungen unter den Beamten durcheinander brachte.

Politisierend wirkte seit der Wende zum 17. Jahrhundert ein weiterer Konflikt um die örtliche Macht, als eine Gruppe von protestantischen Bürgern versuchte, sich gegenüber der obrigkeit­lichen Kanzlei und damit gegen den Herren von Neuhaus, den Katholiken Wilhelm Slawata, durchzusetzen. Dies geschah zu einer Zeit, als sich in den böhmischen Ländern die Religions­konflikte allgemein zuspitzten. Der Majestätsbrief Rudolfs II. nahm dieser angespannten Situation zwar für eine kurze Frist die Spitze, aber Wilhelm Slawata respektierte die Toleranzpolitik im Rahmen seiner Herrschaften nicht. Seit 1604, als Slawata die Herrschaft in Neuhaus angetreten hatte, verquickten sich religiöse und machtpolitische Auseinander­setzungen aufs engste. So nimmt es nicht wunder, dass sich die Stadt aktiv am Ständeaufstand von 1618 bis 1620 beteiligte. Der Aufstand der Stadt gegen die Obrigkeit und die Bestrafung von vierzig Bürgern nach der Niederlage des Ständeheeres in der Schlacht am Weißen Berge sind ein besonders gut belegter Konflikt auf dem Feld lokaler politischer Macht. Neben der Regional­literatur bilden die Schriftstücke, die Wilhelm Slawata im Laufe des Prozesses verfassen ließ, den Ausgangspunkt der Untersuchung. Die Angeklagten wurden von einer speziell für diesen Zweck eingerichteten Kommission verhört. Leider sind nur Fragmente der Verhörprotokolle erhalten. Andere Schriftstücke (Urteile, Korrespondenz) ermöglichen jedoch, den Konflikt als eine Ausein­andersetzung zwischen den auf ihre traditionelle stadtbürgerliche Autonomie pochenden Lokaleliten und einer obrigkeitlichen Administration zu interpretieren, die – herausgefordert im eskalierenden Konflikt – ein Programm der Zentralisierung und Disziplinierung entwickelte. Diese neue Agenda diente der Wiederherstellung der konfessionellen Einheit und der Festigung einer erneuerten politischen Ordnung. Künftig sollte die zentrale Machtstellung der Herrschaft nicht wieder durch örtliche Kräfte in fundamentaler Weise herausgefordert werden können. Bis in die Mitte des 17. Jahr­hunderts kann man in zahlreichen kleinen Lokalkonflikten den Nachklang dieser zentralen politischen Auseinandersetzung vernehmen: Zahlreiche Streitfälle zwischen Amtsträgern der Obrigkeit und Bürgern der Stadt legen Zeugnis davon ab. Diese Konflikte kreisten um amtliche Kompetenzen, um das öffentliche Vermögen und nicht zuletzt um verletzte Ehre.

f) Schriftlichkeit

Die Analyse der Korrespondenz der obrigkeitlichen Kanzlei der Herren von Neuhaus lässt drei Epochen erkennen. Aus dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts sind nur wenige Briefe erhalten, die belegen, dass die Amtsträger zu dieser Zeit nicht verpflichtet waren, ihre Obrig­keit regelmäßig zu informieren. Adam II. von Neuhaus und sein Sohn Joachim Ulrich verließen sich auf langgediente Beamte (Hauptmann Jan Zelendar von Prosovic (1567-1598), Rentschreiber Adam Cech von Kozmařov (1582-1600), Bierschreiber Gregor Auftifer (1587-1606), die im Ruf standen, ihr Arbeit „gut“ zu verrichten.

In den zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts hatte sich die Situation deutlich verändert: Wilhelm von Slawata stand in ständiger Korrespondenz mit seinen höheren Amtsträgern in Neuhaus. Sein „Regent“ Gregor Auftifer und sein Hauptmann Jakub Kecl von Rotendorf erhielten ungefähr einmal pro Woche Briefe, in denen es vor allem um wirtschaftliche Belange ging. Die Briefe waren außerordentlich detailliert, denn der in Wien weilende Wilhelm Slawata wollte über alles informiert sein, alles richten oder beeinflussen. Seine Briefe enthalten nicht nur Anordnungen für die Adressaten, sondern auch für die anderen obrigkeit­liche Amtsträger. Alle Korrespondenz zwischen Wien und Neuhaus nahm diesen Weg, so dass keine Schreiben Wilhelm Slawatas an einen Bier- oder Rentschreibern oder einen Burggrafen überliefert sind. Dieses Kommunikationssystem förderte durch seinen „Nadelöhr-Charakter“ die Macht der führenden lokalen Amtsträger. An dieser Praxis hielt auch der Nachfolger Adam Pavel Slawata (1603-1657) fest.

Der Wandel um 1620 ist eng verbunden mit der Person des Wilhelm Slawata, den man als „graphoman“ bezeichnen kann. So schrieb er nach 1630 eine Chronik der böhmischen Länder in 14 Bänden. Rechtsbegriffe verwendete er vor allem in Briefen, die im Zusammenhang standen mit den Konflikten der Jahre 1610/11, als die Bürger der Stadt Neuhaus eine Bestätigung des Majestätsbriefs Rudolf II. erlangen wollten, und nach 1620, als er mit Nachdruck die Bestrafung von aufständischen Bürgern betrieb.

Die Pflicht, ihre Obrigkeit regelmäßig zu informieren, oblag auch den Hauptleuten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Nach 1660 korrespondierten allerdings auch die Haupt­leute in den verschiedenen Dominien regelmäßig miteinander, so dass nunmehr zwischen den regionalen Herrschaftssitzen Neuhaus, Telč und Neubistritz permanent Informationen ausgetauscht wurden. Nach 1690 wandelte sich das Kommunikationssystem ein weiteres Mal. Unter der Ägide der Tscherniner war Neuhaus kein Zentrum des Dominiums mehr; die dortige obrigkeitliche Kanzlei wurde einer Zentralkanzlei in Prag nachgeordnet. Seither unterstand der Hauptmann von Neuhaus, der sich bis 1690 an der hierarchischen Spitze der Bürokratie befunden hatte, einer neuen vorgesetzten Behörde, an die er regelmäßig Bericht erstatten musste.

Im 17. und 18. Jahrhundert führten die obrigkeitliche Kanzlei und der städtische Magistrat genaue Protokolle ihrer Sitzungen und archivierten ihre gesamte Korrespondenz. Allerdings sind aus dieser Epoche keine Kataster überliefert, sondern lediglich Urbare (für Neuhaus aus den Jahren 1613 und 1652-1654). Hinzu kommt die Berni rula, ein Verzeichnis aller Güter in Böhmen aus dem Jahre 1654 und deren revidierte Fassung von 1668. Das erste moderne Kataster („Stabilkataster“) wurde für Böhmen erst im Jahre 1835 fertiggestellt und befindet sich heute im Zentralarchiv für Geodäsie und Kataster in Prag. Nach Auskunft der Berni rula von 1688 bestand die Herrschaft Neuhaus mit Zirovnice, Kardasova Recice und Cervena Lhota aus zwei Städten, 5 Kleinstädten und 96 Dörfern mit insgesamt ungefähr 20.000 Einwohnern.

g) Rituale und Repräsentationsformen lokaler Macht

Neben den Konflikten werden Rituale und andere Formen der Repräsentation lokaler Macht untersucht. Bisher konnten in den Quellen die pompösen Einzüge und Begrüßungen der Obrigkeit, die Einsetzungsfeierlichkeiten der führenden Amtsträger (vor allem der Haupt­leute), die feierlichen Erneuerungen des Stadtrats und die sich regelmäßig wiederholenden Revisionen der obrigkeitlichen Buchhaltung gefunden werden. Während für die ersten drei Rituale nur unspezifische Nachrichten erhalten geblieben sind, die keine Generalisierungen ermöglichen, lohnt es sich, die Kontrolle der obrigkeitliche Buchhaltung während der langen Epoche von 1560 bis 1690 ausführlicher zu untersuchen. Die Visitationsberichte, die in die Rechnungen inkorporiert wurden, lassen Änderungen im Ritual und vor allem in der Struktur der Teilnehmer erkennen. Darin spiegelt sich der Wandel in der Machthierarchie der obrigkeitlichen Beamten.   

Die obrigkeitlichen Amtsträger bemühten sich, ihre herausgehobene Stellung durch den Erwerb von repräsentativen Stadthäusern zu demonstrieren. Wer nicht im Schloss wohnte, kaufte sich Immobilien im Stadtzentrum, an einem der Hauptplätze oder in den einmündenden Straßen. Man kann die Umbauten dieser Objekte und die Kontinuität des Immobilienbesitz in Händen der obrigkeitlichen Amtsträgerfamilien über lange Zeiträume belegen. Dieser Personenkreis war mäzenatisch tätig, vor allem bei der Ausgestaltung der neuen Wallfahrts­orte und der Renovierung von berühmten Pfarr- und Klosterkirchen, die traditionell im Zentrum katholischer Frömmigkeit standen. Mitglieder des niederen Adels, die als Hauptleute den Herren von Neuhaus und den Slawatas dienten, neigten dazu, ihre Grabstätte in den Kirchen zu nehmen, wo schon ihre Vorgänger im Hauptmannsamt beigesetzt worden waren, und demonstrierten auf diese Weise die Kontinuität der Macht.

Die Arbeit zu den maßgeblichen Räumen der lokalen Macht wird sich künftig auf zwei Orte konzentrieren: Das Rathaus mit dem Hauptplatz der Stadt Neuhaus und die obrigkeitliche Kanzlei im Schloss. Dies waren die Räume, in denen die Macht des Stadtrats und der Bürokratie präsent war. Gefragt wird nach der Offenheit bzw. der Geschlossenheit der Amtsräume in Rathaus und Kanzlei für die Öffentlichkeit, nach ihrer materiellen Kultur (Zweckorientierung oder Vorwiegen repräsentativer Funktionen, Demonstration der Machtkontinuität, beispielsweise durch Porträts der Herrschaft). Der zweite Fragenbereich konzentriert sich auf den Neuhauser Hauptplatz,  als den zentralen Raum der Stadt. Dort befanden sich das Rathaus und die repräsentativsten Häuser, dort trugen sich viele Rituale zu, so die Begrüßung der Obrigkeit, militärische Aufmärsche oder Rechtsrituale, wie Exekutionen oder der öffentliche Vollzug von Verbannungen aus der Stadt.

2. Lokale Macht in ungarischen Komitaten (Szatmár und Sopron / Ödenburg)

Gegenüber dem Antrag haben wir im Falle des ungarischen Regionalprojekts eine sachliche Veränderung vorgenommen, um Bedenken der Gutachter abzuhelfen. Ursprünglich war nur die Erforschung des Komitats Szatmár beabsichtigt, was jedoch eine Begrenzung der Unter­suchung auf das 18. Jahrhundert bedeutet hätte. Das Komitat Szatmár war nämlich nach dem Fall der Festung Várad (Großwardein) im Jahre 1660 den Durchzügen der königlichen, osmanischen und siebenbürgischen Truppen schutzlos ausgeliefert. Wegen dieser chaotischen Situation setzt eine dichte Überlieferung erst wieder für das frühe 18. Jahrhundert ein, so dass selbst die Angaben zum Verlauf und zu den gesell­schaftlichen Folgen der Türken­kriege und des Kuruzzenaufstandes über­wiegend aus retrospektiven Quellen stammen. Die Projekt­bearbeiter Prof. Dr. Anrdás Vári und Dr. Judit Pál untersuchen – wie ursprünglich vorgesehen – die Amtsträger des Komitats Szatmár und der städtischen Magistrate der Mediatstadt Nagykároly und der freien Stadt Szatmár. Dr. Peter Dominkovits komplettiert das Bild über die Praxis der ungarischen lokalen Rechtsprechung und Verwaltung, indem er ergänzend die Verhältnisse des an der Grenze zu Österreich gelegenen Komitats Sopron (Ödenburg) im 17. und frühen 18. Jahr­hundert analysiert.

Da die Bearbeiterin der städtischen Überlieferung erst vor kurzem ihre Arbeit aufgenommen hat, liegen noch kaum Ergebnisse zur freien könig­lichen Stadt Szatmár und zur adeligen Mediatstadt Nagykároly vor. Zur Stadtgeschichte von Szatmár wurde eine Bibliographie erarbeitet. Aus den zumeist älteren Werken sind wichtige Hinweise zur Verwaltung und über städtische Konflikte zu entnehmen. Im 18. Jahr­hundert sind zwei Konflikttypen zu unter­scheiden, Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten einerseits sowie Konflikte zwischen den beiden Stadtteilen Szatmár und Németi andererseits.

Für das 18. Jahrhundert bilden die administrative und die gerichtliche Reihe der Stadt­protokolle die wichtigsten Quellen. Bisher wurde die Verwaltungsüberlieferung untersucht und auf dieser Grundlage drei Datenbanken errichtet, je eine über den „kleinen“ und den „großen“ Rat sowie über die städtischen Amtsträger. Die Mitglieder des großen Rates (centumviren) bilden die größte Gruppe (bisher mehr als 100 Personen), die Senatoren des kleinen Rates und die städtischen Amtsträger umfassen jeweils circa 50 Personen.

a) Die ungarischen Komitate

Bei den Komitaten handelt es sich um regionale Selbstverwaltungskörperschaften des Adels, deren Ursprünge im 14. Jahrhundert liegen, die jedoch ihre volle institutionelle Ausprägung im 16. Jahrhundert erreichten. Gegliedert waren die Komitate in eine Generalversammlung (congregatio generalis), die Partikular­versammlung (congregatio particularis), den Siegelstuhl (sedes sigillatoria) und das Komitatsgericht (sedes iudiciaria / sedria). Am häufigsten tagten die General­versammlung und das Komitatsgericht. Zu den Sitzungen dieser Foren erschienen die Komitatsbeamten, die Repräsentanten des Obergespans und der Magnaten, des weiteren die Kläger und Angeklagten mit ihren Advokaten. Magnaten und Obergespane waren selten persönlich anwesend, sie ließen sich nur zu den wichtigsten Anlässen sehen. Das Komitat und seine Foren waren im 17. und 18. Jahrhundert auf regionaler Ebene fast allzuständig. Die Kompetenzen umfassten die allgemeine Wohlfahrts­verwaltung, die Steuer­erhebung, die Konskription, wichtige Bereiche der Recht­sprechung und sogar Teile der Gesetzgebung. Außerdem hatten Komitats­versamm­lungen das Recht, Abgeordnete zur Ständeversammlung des Königreichs Ungarn zu wählen, sie zu instruieren und notfalls auch zurück zu beordern. Komitate bestehen bis heute als Gebietskörper­schaften regionaler Selbstverwaltung.

Die Komitate waren für die Anwendung der Landesgesetze verantwortlich, sowohl im Verwaltungshandeln, als auch in der Rechtsprechung. Gegen vermeintlich rechtswidrige Verfügungen der königlichen Zentralbehörden konnten sie Protest einlegen und dadurch deren Durchführung wenn nicht verhindern, so doch hinauszögern. Sie waren berechtigt, eigene Vorschriften (statuti) mit subsidiärer Wirkung zu erlassen, die von großer Bedeutung für das wirtschaftliche und soziale Leben waren. Viele Komitatsstatuten wurden per Landtags­beschluss zu staatlichen Gesetzen; in zeitgenössischer Terminologie wurde aus einer Gewohnheit (consuetudo / usus) ein Gesetz (lex regnum). Erst ab der Mitte des 18. Jahr­hunderts verloren die Komitatsstatuten an Bedeutung und mussten den Gesetzen und Verordnungen der staatlichen Zentralmacht weichen. Auch das Amtsgebaren der officiales in den Komitaten unterlag erst zwischen 1780 und 1848 einem wirksamen Bürokratisierungs­prozess, hervor­gerufen vor allem durch die josephinischen Reformen.

Das Komitatsgericht (sedes judiciaria, sedria) war Gerichtsort erster Instanz für Adelige, zweiter Instanz für Bürger und Dorfgemeinden. Auch Hörige durften seit Mitte des 18. Jahr­hunderts in zivilrechtlichen Streitfällen gegen Urteile der Patrimonialgerichte appellieren. Die Komitatsgerichte dehnten ihre Kompetenzen im Verlauf des 18. Jahrhunderts auf Kosten der Patrimonialgerichte aus: Je nach Art des Prozesses unterschiedlich wurde es immer üblicher, dass ein Vertreter des Komitats mit Stimmrecht an den Sitzungen der Patrimonial­gerichte teilnahm. Signifikanterweise fiel sogar Joseph II. im Zuge seiner Bauernschutzpolitik nichts Besseres ein, als die Patrimonialgerichte durch die zuständigen Komitatsgerichte zu ersetzen bzw. kontrollieren zu lassen.

b) Ämter und Amtsinhaber

Die Komitatsorgane im engeren Sinne waren die Komitatsversammlung und das Komitats­gericht; beide stützten sich auf officiales. An der Spitze stand der Obergespan als Entsandter des Königs mit der Aufgabe, das Komitat zu beaufsichtigen. Im Komitat Sopron (Ödenburg) hatten seit 1681 Angehörige der Fürstenfamilie Esterházy dieses Amt inne, im Komitat Szatmár waren es fast ununterbrochen die Grafen Károlyi. Obergespane spielten im Alltags­geschäft des Komitats kaum eine Rolle – das überließen diese hohen Herren anderen. Gleich­wohl übten sie großen Einfluss aus auf politische Richtungsentscheidungen und konnten auch in Personalangelegenheiten kaum übergangen werden.

Die politischen, judikativen und administrativen Funktionen wurden in der Praxis von anderen officiales ausgeübt, vom Vizegespan, von den Stuhlrichtern, die den einzelnen Bezirken (districtus) vorstanden, und von den Geschworenen. Alle drei Jahre fanden Wahlen von Amtsträgern anlässlich der allgemeinen Komitats­versammlungen statt; die Mandate wurden meist für sechs Jahre vergeben. Die Amtsträger entstammten nahezu ausschließlich dem regionalen Adel. Sie konnten beliebig oft wieder gewählt werden und waren der Komitatsversammlung verantwortlich.

Die Kompetenzen des Vizegespans waren weit gefasst, neben allerlei Verwaltungstätigkeiten führte er auch den Vorsitz im Komitatsgericht, das sowohl in zivilrechtlichen wie auch in Kriminalfällen zuständig war. Als Beisitzer fungierten dort mehrere Stuhlrichter und Geschworene. Im allgemeinen war das Komitatsgericht mehr mit Appellationen beschäftigt, hierher gehörten aber auch alle Fälle erster Instanz, die durch Gesetz oder Herkommen kein bestimmtes Forum hatten. Um den Vizegespan bildete sich im 18. Jahrhundert ein eigenes Gericht: Zusammen mit einem Stuhlrichter und einem Geschworenem sprach er Recht in zivilrechtlichen Fällen im forum vicecomitis, bis zu einem hohem Streitwert. Von hier aus konnte an das Komitatsgericht appelliert werden.

Ganz offensichtlich eröffnete das Amt des Vizegespans – als höchstes ständisches Amt im Komitat – eine besonders wichtige Machtposition. Entsprechend versuchten die Magnaten, die Wahl des Vizegespans in ihrem Sinne zu beeinflussen. Das Amt sollte möglichst von einem ihrer Servitoren bekleidet werden, denn damit war gesichert, dass die Magnaten­familie rechtzeitig über Entwicklungen im Komitat informiert wurde und ihren Einfluss geltend machen konnte. Als Servitoren bezeichnete man zeitgenössisch den Teil des Adel, der den Magnaten als Höflinge, Offiziere oder zivile Amtsträger diente. Für das ausgehende 16. und das frühe 17. Jahrhundert hat die Analyse der Steuerkonskriptionen im Komitat Ödenburg eine bipolare Besitz- und Macht­struktur ergeben: Der größte Grundbesitzer war Graf Ferenc Nádasdy, gefolgt von Ferenc Dersffy von Szerdahely. Die weniger begüterten Adelsfamilien schlossen sich überwiegend als Servitoren einer der beiden führenden Magnaten-Familien an. Bei der Wahl der Vizegespane setzten sich meist die Kandidaten aus dem Umfeld der Grafen Nádasdy durch, so von 1580 bis 1617, von 1629 bis 1637, von 1655 bis 1662 und letztmalig von 1669 bis 1672. Ein typischer Fall ist Bálint Récsey von Gálosháza, der aus dem begüterten Adel stammte, von 1629 bis 1637 als Vizegespan amtierte und dessen Familie seit Generationen zur Gefolgschaft der Nadasdy gehörte. Graf Paul Nádasdy, Obergespan des Komitates Eisenburg, nannte ihn mehrfach primus familiaris aulae noster.

Eine Veränderung trat erst ein, als Miklós Esterházy, oberster Landrichter und Palatin von Ungarn, die Güter der Familie Derssfy ‚erheiratete’. Dank seiner Fähigkeiten und seiner Königstreue rückte er zum zweitgrößten Grundbesitzer im Komitat Ödenburg auf. Im Verlauf von etwa zehn Jahren gelang es den Esterházy, sich im Komitat Ödenburg eine Gefolgschaft aufzubauen, so dass sie im zweiten Drittel des 17. Jahr­hunderts den Machtkampf um die Besetzung der Position des Vizegespans mit der Magnatenfamilien Nádasdy aufnehmen konnten. Als 1670/1671 die sogenannte Wesselényi-Verschwörung gegen die Habsburger aufgedeckt wurde, leitete man auch gegen den Obersten Landrichter Graf Ferenc Nádasdy einen Hochverratsprozeß ein. Der Prozess endete mit seiner Enthauptung und mit dem Verlust seines gesamten Vermögens. Hiervon profitierte vor allem Graf (seit 1681: Fürst) Paul Esterházy, Obergespan des Komitates und von 1681 bis 1713 Palatin von Ungarn.

Folgerichtig wählten die Stände im Jahre 1673 mit Mózes Cziráky von Dénesfalva einen Servitor von Paul Esterházy zum Vizegespan des Komitats Ödenburg. Er bekleidete diese Position bis 1689. Anschließend kam mit István Nagy von Felsöbük ein ehemaliger Komitatsnotar ins Amt des Vizegespans. Er führte dieses Amt ungewöhnlich lange, bis August 1730. Er entstammte der zweiten Generation einer Beamtenfamilie, in der die Karriere im Komitat meistens mit einer Juristen-Karriere auf Landesebene gekrönt wurde. Obwohl schon sein Vater György Nagy zwischen 1658 und 1682 Stuhlrichter im Komitat gewesen war, wurde er als homo novus angesehen, denn die Familie Nagy war erst 1616 in die Reihen des Adels erhoben worden. Der Fall des István Nagy von Felsöbük illustriert die wachsende Bedeutung allgemeiner Bildung und fachlicher Schulung für Amtskarrieren im Komitat Ödenburg. Er war Absolvent des Jesuiten-Gymnasiums in Ödenburg und hatte zwischen 1672 und 1674 an der Universität von Tyrnau (Nagyszombat) die Rechte studiert.

Auch im Komitat Szatmár kamen die Vizegespane im 18. Jahrhundert aus den Reihen der bene possessionati des Komitats. Etwa die Hälfte der 18 Vizegespane, die zwischen 1701 und 1848 amtierten, wurde unmittelbar in dieses hohe Amt gewählt, ohne eine Karriere durch­laufen zu haben. Viele von ihnen wurden anschließend noch einmal für eine zweite Amtsperiode gewählt. Die andere Hälfte der Vizegespane hatte vorher die Stellungen eines Stuhlrichters (12), eines Notars (6) oder eines Steuererhebers (dicators) (1) inne gehabt. In ihrem Fall schloss die Wahl zum Vizegespan also eine längere Laufbahn ab, was sich auch darin niederschlägt, dass nur zweien von ihnen eine zweite Amtszeit gewährt wurde.

Die Stuhlrichter bildeten das Rückgrat der Verwaltung und der Rechtsprechung. In Sopron / Ödenburg beispielsweise standen vier Stuhlrichters (judex nobilium/judlium) an der Spitze der vier Stuhlbezirke. Sie bewältigten mit den Geschworenen den größten Teil der Verwaltungs- und Gerichtsaufgaben: Sie nahmen im Vorfeld von Prozessen die Zeugenanhörungen vor, zitierten die streitenden Parteien vor das Komitatsgericht, und sorgten für die rechtzeitige Fertigstellung der Steuerkonskriptionen. Die Stuhlrichter mit den Geschworenen sicherten mithin das alltägliche Funktionieren der Komitate.

Für das Komitat Szatmár im 18. Jahr­hundert wurden die Umrisse der Karrieren von Stuhl­richtern ermittelt. Mehrheitlich dienten sie, einmal gewählt, nahezu kontinuierlich. Von den nach 1732 gewählten 43 Unterstuhlrichtern wurden 25 ein zweites, 18 auch ein drittes Mal in ein Komitatsamt gewählt, meistens erneut ins Stuhlrichteramt. Wer drei Amtszeiten erreichte, kam auf fast zwei Jahrzehnte Dienstzeit. Diejenigen, die sofort in ein Oberstuhlrichteramt gewählt wurden, erlangten nur zur Hälfte eine Wiederwahl. Das wird wohl seine Ursache darin finden, dass diese Senkrechtstarter, genau wie die unmittelbar ins Amt eines Vize­gespans Gewählten, zu den Wohlhabenderen gehörten, so dass ihnen der eigene Wirtschafts­betrieb eine attraktive Alternative bot. Wie die Vizegespane bildeten auch die Stuhlrichter eigene Gerichtsorgane (forum judicis nobilium, forum judlium) aus, die allerdings nur in polizei- und zivilrechtlichen Fällen mit geringem Streitwert zuständig waren. Urteile sprach ein Stuhlrichter gemeinsam mit einem Geschworenen (jurati assessores / assessores); Appellationen gingen auch von hier an das Komitatsgericht.

Die Geschworenen waren wesentlich ärmer; von 35 namentlich bekannten Geschworenen im Komitat Szatmár gehörten nur 13 zu den Familien, die auch in den höheren Amtsrängen vertreten waren. Das heißt, zwei Drittel der Geschworenen stammte aus Familien, deren Mitglieder nie ein bedeutendes Amt inne hatten.

Vizegespane, Stuhlrichter und Geschworene waren im östlich gelegenen Komitat Szatmár zwar überwiegend nicht formell juristisch ausgebildet, sie hatten jedoch an der allgemeinen ständischen Rechtsauffassung und an den adligen Kulturformen teil. Die Koppelung von Zuständigkeiten in Verwaltungs- und Justizsachen gab ihnen einen vollständigen Überblick über die Geschäfte des Komitats und eine kaum überbietbare Machtfülle. Lediglich die ‚öffentliche Meinung’ der Adelsgemeinschaft im Komitat setzte ihrer Macht Grenzen, denn erst seit 1785 begannen die zentralen königlichen Behörden durch den Erlass von Landes­gesetzen und Verfügungen auch auf regionaler und lokaler Ebene energisch Einfluss zu nehmen.

Neben Vizegespan und Stuhlrichter traten als dritter Typ von Komitatsbeamten geschulte Fachleute, die Notare und Anwälte. Auch sie waren zwar gewählte officiales, besorgten jedoch Geschäfte, die juristische Fachkenntnisse erforderten. Der Notar leitete die Kanzlei des Komitats; der Anwalt vertrat das Komitat und unvermögende Adelige in ihren Prozessen; beide nahmen an allen Sitzungen des Komitatsgerichts teil. Entsprechend trugen diese beiden Amtsträger eine große Arbeitslast. Die Anwälte in Szatmár scheinen den Komitatsdienst nur als ‚Transitstrecke’ benutzt zu haben, denn von den 14 Anwälten im Untersuchungszeitraum hat nur ein Viertel eine zweite Amtszeit bekommen oder angestrebt. Es kann bislang nicht gesagt werden, worin die Gründe für dieses Verhalten liegen, ob es darauf zurückzuführen ist, dass diese Funktion besonders konfliktträchtig war, oder ob es attraktive Alternativen gab, beispielsweise eine lukrative Privatpraxis. Demgegenüber blieben Notare lange im Amt und erlebten oftmals einen Aufstieg. Von den 47 Personen, die als erste Funktion das Amt eines Notars bekleidet hatten, errangen 30 ein zweites Mandat, 15 erlebten sogar eine dritte Amtsperiode innerhalb des Komitats, meistens wiederum als Notar, in einigen Fällen als Stuhlrichter oder gar als Vizegespan. Immerhin sieben Personen, die ihre Laufbahn als Notare begonnen hatten, wurden später Vizegespane – eine relativ große Zahl. An die Spitze der Komitatsverwaltung gelangte demnach entweder ein reicher Herr aus alter Familie oder ein umsichtiger, gebildeter, langgedienter Bürokrat. Die ‚Karrierebeamten’ stammten aus Familien, die nicht zum Kern der bene possessionati des Komitats zählten, sondern oft aus anderen Regionen zugewandert und frisch nobilitiert waren. Das Notariat scheint also einen Aufstieg ermöglicht zu haben, obwohl man nicht von der allgemeinen Geltung des merito­kratischen Prinzips ausgehen kann, denn die Mehrheit der Vizegespane stammte aus alten, begüterten Familien des Komitatsadels.

Vergleicht man die Ergebnisse zu den Komitaten Sopron / Ödenburg und Szatmár miteinander, erkennt man die erfolgreiche Strategie einiger Familien, ihre Stellung im Verlauf mehrer Generationen durch gute Schulbildung und fachliche Schulung allmählich auszubauen. In diesen Professionalisierungsprozess scheint das westlich gelegene Komitat Ödenburg etwa eine Generation vor dem ‚archaischeren’ Szatmár eingetreten zu sein.

c) Familienverbände

Da die Komitatsorgane offensichtlich weit machtvoller waren, als alles, was man aus den böhmischen, preußischen oder sächsischen Kreisen kennt, waren die Amtspositionen heiß begehrt. Entsprechend umkämpft waren die Wahlen zu den Komitatsämtern. Die nach­folgende Tabelle führte diejenigen Familien auf, die im gesamten Zeitraum von 1701 bis 1848 im Komitat Szatmár mit mehr als vier Mitgliedern in den Ämtern oberhalb der Ebene der Geschworenen vertreten waren. Es wurden zwei Differenzierungen vorgenommen, eine zeitliche und eine sachliche. Zum einen werden die Stellungen des Vizegespans von den mittleren Positionen (Stuhlrichter, Notare, Anwälte) unterschieden. Zum anderen wird eine grobe Epocheneinteilung vollzogen. Die erste Phase umfasst die ältere rustikale Welt bis 1780, und die sich anschließende zweite Phase ist gekennzeichnet von einer sich rasch vollziehenden Bürokratisierung. Da viele Laufbahnen diese Epochen­schwelle überschritten haben, wurden die Amtsträger jeweils dort gezählt, wo sie den längeren Teil ihrer Dienstzeit verbracht haben.

Familien in der Komitatsverwaltung von Szatmár 1701-1848

Familie

Amtsträger auf mittlerer Ebene

1701-1780

Amtsträger auf mittlerer Ebene

1781-1848

Vizegespane

1701-1780

Vizegespane

1781-1848

Insgesamt

Becsky

3

2

2

 

7

Eötvös

2

2

3

1

8

Erõs

5

1

   

6

Gáspár

1

4

   

5

Irinyi

5

2

1

 

8

Isaák

 

3

 

1

4

Jékey

2

1

1

 

4

Kende

1

2

2

2

7

Kölcsey

2

2

   

4

Nagy (Rápolthy)

2

3

1

 

6

Szuhányi

 

1

2

1

4

Uray

1

1

 

2

4

Vitkay

2

4

2

 

8

Insgesamt

26

28

14

7

75

Nimmt man diejenigen Familien, die in der gesamten Periode mit mindestens vier Personen unter den insgesamt 228 Amtsträgern vertreten waren, dann stellten diese 13 Familien 75 Amtsinhaber, die für kürzere oder längere Zeit amtierten. Dieser Befund deutet nicht auf eine über­wältigende Konzentration der Macht in der Hand einzelner Familienverbände hin, vor allem, wenn man bedenkt, dass praktisch nur Personen mit einigem Besitz und Ansehen erfolgreich kandidieren und im Amt tatsächlich wirken konnten, was die Zahl der potentiell zur Wahl stehenden Personen von vornherein begrenzte. Andererseits hängen Aussagen darüber, wie weit Stellen monopolisiert wurden, vom Vergleichsmaßstab ab. Es fällt jedoch auf jeden Fall schwer, den Befund als das Resultat von besonderen, auf den Zusammenhalt bestimmter Personenkreise aufbauenden Taktiken zu interpretieren. Der Anteil von Stellen, die eine ‚große Familie’ zu ergattern vermochte, hing nämlich auch von ganz alltäglichen Umständen ab, nicht nur von geschickt geknüpften Netzwerken. Um nur einige simple Dinge zu erwähnen: Die Zahl der erwachsenen Familienmitglieder, die Größe und regionale Streuung der Besitzungen, die Kontakte zu bzw. die Präsenz in den großen Gutsverwaltungen, all dies wird dabei eine Rolle gespielt haben.

Die Stärke der informellen Verbindungen war also untrennbar mit anderen Faktoren verbunden, so dass es unmöglich ist, ‚Klientelismus’ aufgrund des Ausmaßes der Ämtermonopolisierung zu ‚messen’. Aber nicht nur die Gesamtstärke der informellen Verbindungen ist von Interesse, zumal das Projekt nicht darauf abzielt, Maßzahlen zu suchen, die die Abweichung von informell vernetzten Verwaltungen von den ‚sauber’ nach Weber’schen Prinzipien arbeitenden modernen Verwaltungen ausdrücken sollen. Vielmehr sucht das Projekt nach den Eigenarten der Machtausübung.

d) Amtsgebaren

Die amtliche Tätigkeit der officiales hat sich während des 18. Jahrhunderts erheblich verändert. Schriftlichkeit fand immer weitere Verbreitung, die Sitten wurden ziviler, die Akten dicker. Der Rechtshistoriker Lajos Hajdú hat detailliert nachgewiesen, dass weder die Verwaltungstätigkeit, noch die Rechtsprechung der Komitate nach dem Tod von Joseph II. in die alten Bahnen zurückkehrte. Im Gegenteil, bleibende Veränderungen in Richtung einer dauerhaften Bürokratisierung sind festzustellen. Ihre soziale Umgebung war jedoch auch am Ende des 18. Jahrhunderts noch immer eine Terra incognita für die Gerichts- und Verwaltungsbehörden, mit fundamentalen Konsequenzen für den Ausgang von rechtlichen Konflikten. Die meisten Untersuchungsakten des Komitats behandeln Sachen, die später unzwei­deutig dokumentiert sind, beispielsweise die Grenzen von Verwaltungsbezirken oder Privatgrundstücken, die Abstammung und damit die ständische Dignität von Personen, gegebene oder unterlassene Verpflichtungserklärungen und vieles mehr. Solche Tatsachen konnten in Szatmár noch am Ende des 18. Jahrhunderts nicht einfach den laufenden Akten entnommen werden, sondern waren nur durch ganze Reihen von teils widersprüchlichen Zeugenaussagen zu klären, was dem Vertreter des Komitats, der über lokale Kenntnisse verfügte und die örtlichen Umstände einigermaßen überblickte, gewaltige Macht in die Hände spielte. Dies gilt auch ex negativo: Man gewinnt den Eindruck, dass fehlerhafte Angaben und in der Untersuchungsphase nicht hinreichend dokumentierte Tatsachen den Ausgang eines  Prozesses weitgehend bestimmten.

e) Ökonomische und soziale Wertschätzung

Macht gehört zu den Früchten des Amtes, andere Früchte sind das Prestige und die Gehälter. Die Gehälter waren fixiert und wurden auch in Jahren der Teuerung nicht angepasst. Über das Sportelaufkommen im 18. Jahr­hundert haben wir bisher keine genauen Kenntnisse, sie fielen seit der Josephinischen Zeit auf jeden Fall unbedeutend aus. Bei einzelnen Amtspositionen, die für heutige Begriffe durchaus den ganzen Mann forderten, muss man in Rechnung stellen, dass die Amtsinhaber neben ihrer amtlichen Tätigkeit eine bedeutende ‚Privatpraxis’ geführt haben, so z.B. die Komitatsanwälte und -ärzte. Für die anderen Beamten gab es neben den Gehältern noch Diäten. So war diejenige Partei in einem Rechtstreit, die eine Untersuchung beantragt hatte, verpflichtet, die Kosten zu tragen. Diese Kosten setzten sich zusammen aus einem Tagegeld und einem Verpflegungssatz für den untersuchenden Amtsträger. Reichtümer ließen sich dadurch wohl kaum ansammeln.

Die Komitatsämter vermittelten ihren Inhabern über das Einkommen hinaus hohes soziales Ansehen. Dieser Faktor sollte nicht vernachlässigt werden. Wie hoch die Ehre von Amt und Amtsträger geschätzt wurden, erkennt man daran, dass das Komitat als Körperschaft im Konflikt alles daran setzte, diese Ehre gegen Anwürfe von außen zu verteidigen.

Jahresgehälter der Szatmárer Komitatsbeamten im Jahr 1809

Bezeichnung des Amtes

(Zahl der officiales)

Rheinische Gulden

Obergespan

1.500

1. Vizegespan

600

2. Vizegespan

300

Obernotar

500

1. Unternotar

250

2. Unternotar

150

Registrator

300

Oberstuhlrichter (4)

300

1. Unterstuhlrichter (4)

150

2. Unterstuhlrichter (4)

150

Ordentliche Geschworene (12)

100

Oberanwalt

300

Unteranwälte(2)

75

Obersteuereinnehmer

500

Untersteuereinnehmer

300

Distrikt-Steuereinnehmer (4)

150

Rechnungsprüfer

200

Beeidete Schreiber (4)

100

Steuereintreibungskommissare (9)

80

Landvermesser

400

Oberarzt

400

Wundärzte (6) 

200

f) Untersuchungen und Untersuchende

Die Organe des Komitats hatten einerseits Routineaufgaben zu erledigen, beispielsweise Viehpässe auszustellen, Rechtsgeschäfte zu beglaubigen und ähnliches mehr. Andererseits fällte das Komitatsgericht Urteile von weitreichender Bedeutung. Diese Urteile beruhten auf voran gegangenen Untersuchungen. Bei weitem nicht alle reiften jedoch zu Prozessen heran, so dass die Untersuchungsakten ein vollständigeres Bild der Konflikte vermitteln als die Prozessakten. Um eine Eindruck von dieser Art der Machtausübung zu gewinnen, sind sämtliche Untersuchungen des Komitats Szatmár im Zeitraum von 1767 bis 1783 aufbereitet worden. Diese Periode ergab sich eher zufällig durch die Gegebenheiten bei der Archiv­benutzung; die Sammlung der Daten wird fortgesetzt. Was man zu Gesicht bekommt, ist bruchstückhaft. Offenbar wurden Akten zur weiteren Bearbeitung aus der Reihe entfernt, manche auch beschädigt. Es ist jedoch eine zeitgenössische Ordnung zu erkennen, spätere systematische Kassationen sind nicht vorgenommen worden.

Wenn man die ganze Reihe durcharbeitet, erhält man ein Bild davon, was das Komitat einer Untersuchung wert erachtete, in welchen Fällen, welche Beamte, auf Ersuchen welcher Personen tätig wurden. Zur Kontrolle und Ergänzung werden gegenwärtig die ausführlichen Findbücher des Komitatsgerichtes systematisch erfasst. Einerseits wird dadurch ersichtlich, aus welchen Untersuchungen Prozesse hervor gingen. Man erkennt die Prozessgegner eindeutig, was bei einer Untersuchung oft nicht der Fall ist, und kann so ein Netz von Konfliktbeteiligungen rekonstruieren.

Die meisten Untersuchungen wurden von adeligen Einzelpersonen, in wesentlich geringerer Zahl von Gemeinden beantragt. Noch seltener waren Untersuchungen auf Antrag königlicher Organe oder anderer Komitate. Ein Ersuchen konnte und wurde häufiger ohne weiteres ignoriert, sogar wenn es von anderen Körperschaften kam – das Komitat war souverän. Dies zeigt sich in der Menge der Eingaben, die zur Generalversammlung (congregatio) des Komitats zum Teil wiederholt eingereicht wurden. Es ist also wichtig zu betonen, dass schon der Durchführung einer Untersuchung eine durchaus nicht selbstverständlich positive Vorentscheidung zugrunde lag.

Die commissio, der formelle Auftrag zur Untersuchung, stammte in den allermeisten Fällen vom Vizegespan. Oft ist allerdings vermerkt, dass er damit eine Entscheidung der General- oder Partikularversammlung des Komitats ausführte. Ob er in den übrigen Fällen aus eigener Machtvollkommenheit handelte, oder es einfach unterließ, auf die Entscheidung der Versammlung hinzuweisen, ist noch offen.

Die Privatpersonen, die um eine Untersuchung baten, kamen aus drei Schichten. Zum einen beantragte die Magnatenfamilie der Károlyi eine Reihe von Untersuchungen, die allesamt die Entflechtung von Waldnutzungen unter der große Familie und den zahlreichen lokalen compossessores bezweckten. Dann gab es eine Reihe von Untersuchungsanträgen von Kleinadligen. Unterhalb der Ebene der bene possessionati gab es nämlich eine äußerst breite Schicht von armen, ja geradezu besitzlosen Adeligen. Letztere bewohnten ganze Dörfer, gehörten definitionsgemäß unter kein Patrimonialgericht und brachten ihre sämtlichen Angelegenheiten vor die Komitatsorgane. Drittens gab es Untersuchungsanträge aus der Schicht, aus der die Komitatsbeamten überwiegend selber stammten. Unter den Bittstellern gibt es kaum einen Familiennamen, den wir nicht auch in den Listen der Beamten finden können. Dabei muss man aber wissen, dass die Zugehörigkeit zu einer ‚großen Familie’ noch lange keinen Reichtum bedeutete. Die adeligen (nicht nur die kleinadeligen, auch die begüterten) Familien kämpften um diese Zeit noch mit der Besitzzersplitterung. Familiäre Strategien zu deren Begrenzung entwickelten sich erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Träger eines großen Namens konnte durchaus mit dem Bettelsack daherkommen, wenn er einer Generation angehörte, in der die Familie mit vier oder fünf Söhnen gesegnet war.

Drei große Gegenstandsbereiche der Untersuchungen lassen sich unterscheiden. Die meisten haben die Klärung von Besitzverhältnissen zum Inhalt, ein etwas kleinerer Teil bezieht sich auf tätliche Angriffe auf die Habe oder die Person eines Adligen, der Rest betrifft eine Vielzahl von unterschiedlichen Angelegenheiten, die sich eine Systematisierung entziehen.

g) Die zweifelhafte Rolle der Verwandtschaft

Versucht man die „untergründigen“ Strukturen der Komitatsverwaltung aufzudecken, und überprüft die Amtsträger auf ihre Verwandtschaftsverhältnisse hin, kommt man zu dem Ergebnis, dass nahezu alle untereinander verwandt waren. Mit dieser Einsicht ist noch nicht viel erreicht. Relevant wird sie erst, wenn man beispielsweise erkennen könnte, dass familiäre Bindungen zwischen Bittsteller und untersuchendem Amtsträger die Resultate einer amtlichen Untersuchung  beeinflusst hätten. Alles hängt außerdem grundsätzlich davon ab, wie streng oder locker man ‚Verwandtschaft’ fasst. Es ist nicht selbstverständlich, was ein Verwandter ist, denn die weibliche Linie ist aus dem Familiennamen zwar nicht ersichtlich, wurde jedoch von den Zeitgenossen schon aus erbrechtlichen Überlegungen sehr wohl im Auge behalten. Identische Familiennamen konnten dagegen zum Teil auf sehr entfernte Verwandtschafts­grade hinweisen. Gerade weil die Zeitgenossen bedeutende genealogische Kenntnisse hatten, scheint – ähnlich wie die Nation nach Auffassung von Renan – auch die Familie durch das Vergessen konstruiert. Andererseits war selbst die engere Familie alles andere als eine Solidargemeinschaft. Wegen der latenten Erbansprüche und der vielfach lebenslang darum geführten Prozesse gab es fast so viel Trennendes wie Verbindendes innerhalb der Familien.

h) Rollenerwartungen und die verborgene Solidarität der Amtsträger

Nun lässt sich rasch erkennen, dass amtliche Untersuchungen mit äußerst unterschiedlicher Gründ­lichkeit geführt wurden, selbst nach den zeitgenössischen Maßstäben des Komitats­gerichtes. Die Genauigkeit der Angaben zur Person der Zeugen, die Ausführlichkeit der protokollierten Aussagen und der ganze Umfang der Untersuchungen variiert in weitem Maße. Es kann nun keine Rede davon sein, dass diese Unterschiede zufällig entstanden. Die Unter­schiede in der Handhabung der Untersuchungen sind in erster Linie auf den verschieden großen Einsatz der Amtsträger zurückzuführen. In einzelnen Fällen kann man besondere Sorgfalt der Beamten feststellen, ganz schlicht, weil zwischen dem untersuchenden Beamten und dem Bittsteller einer besonders enge Beziehung bestand. Aber wie ist der Rest zu erklären? Zum einen durch die Person des Untersuchenden. Es ist erstaunlich, wie ungleich­mäßig sich die Zahl der Verfahren pro Amtsträger verteilt. Es gab zwischen acht und elf parallel amtierende Stuhl­richter, größtenteils jahrzehntelang die selben. Teilt man die überlieferten Untersuchungen durch die Zahl der Amtsträger, so würden pro Stuhlrichter und Jahr im Schnitt fünf bis sechs Protokolle zu erwarten sein. Stattdessen gab es einen Stuhl­richter, der ein Drittel aller Untersuchungen besorgte, andere haben dagegen während ihrer gesamten Dienstzeit nur zwei oder drei Untersuchungen vorgenommen und manche keine einzige.

Selbst wenn man individuellen Arbeitseifer der einzelnen Stuhlrichter in Rechnung stellt, gibt es immer noch fühlbare Unterschiede in der Behandlung der einzelnen Fälle, die so eben nicht hinreichend erklärt werden können. Manchmal ist die Sympathie des Amtsträgers mit dem Bittsteller mit Händen zu greifen. Vielleicht waren sie verwandt, verschwägert, Jagdgenossen usw. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass der halböffentliche Diskurs über die amtlichen Pflichten und die Lokalversion vom ‚allgemeinen Wohl’ eine Rolle spielten. Ein Stuhlrichter hatte einerseits eine ansehnliche Machtfülle, andererseits stand nach Ablauf von sechs Jahren seine Wiederwahl an. Der Wahlgang wird zwar einem geschädigten oder lässig behandelten Bittsteller kaum eine Möglichkeit zur Retorsion geboten haben, es sei denn, das Verfahren des Beamten verletzte die gängigen Vorstellungen von Billigkeit und Gerechtigkeit in grober Form.

Spuren eines solchen Diskurses innerhalb der ‚Gemeinde’ des Komitatsadels lassen sich in der Korrespondenz finden. Besonders heikle Situationen und schutz­bedürftige Personen erschienen in diesem Diskurs in zwei Varianten. In der dritten Generation nach den Türkenkriegen (also in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts) trat die Pflege der kriegerischen Tugenden im allgemeinen immer mehr in den Hintergrund und machte der ‚Zivilisation’ Platz. Eine Grund­voraussetzung von ‚Zivilisation’ war der unbedingte Verzicht auf Gewaltanwendung. Einige Reisebeschreibungen aus den 1790er Jahren kommentieren die diesbezüglichen Anstrengun­gen. Speziell die Verhinderung der gewaltsamen Besetzung von fremdem Gut war bereits ein zentrales Anliegen des feudalen Rechtsystems gewesen – die neue Mode der Friedfertigkeit konnte in den Augen der Adelsgesellschaft auf diese älteren Tugenden aufbauen. Angriffe auf das Hab und Gut von Witwen und Waisen bildeten eine besonders skandalöse Situation, die nach dem Eingreifen der Amtsträger des Komitats unbedingt verlangte. Attitüde und Rollen­erwartungen bestehen zwar unabhängig von den Inhabern der Rollen, sind insofern über­persönlicher Natur, die Gewährung von Schutz in bedrängter Lage ist jedoch hervorragend geeignet, dauerhafte persönliche Bindungen zu schaffen. Die Auseinander­setzungen und Prozesse dauerten ja oftmals Jahrzehnte. Seiten­wechsel war zwar möglich, Beistand wurde aber für längere Zeit in unterschiedlicher Form benötigt.

i) Klientel im Komitat

Ähnlich wie in der böhmischen Herrschaft Neuhaus, jedoch anders als im hessischen Amt Grebenstein, war im Komitat Szatmár ein großer Herr, ein Magnat, präsent. Obwohl sich die Grafen Károlyi in die Angelegenheiten des Komitats wenig einmischten, war ihre Macht überwältigend. Die Gruppe der Komitatsbeamten, die ihre Karrieren in der Gefolgschaft der Károlyi (in den Vertrauensstellungen eines Sekretärs oder plenipotentarius) angefangen haben, ist klein; sie besteht lediglich aus sechs Personen. Und von den gräflichen Ökonomie­beamten wurde im Untersuchungszeitraum keiner in irgendein Amt des Komitats gewählt. Man muss aber künftig Ausschau halten, ob nicht auch andere, nicht direkt in der Károlyi-Verwaltung dienende Adelige gleichwohl in Abhängigkeit von der Magnatenfamilie standen. Zu denken ist dabei an den Pfandbesitz als weit verbreiteter Besitz­grundlage des Komitats­adels. Pfandbesitz machte abhängig, denn im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts unter­nahmen die großen Familien Ungarns – unter ihnen auch die Károlyi – geradezu Kampagnen, ihren Pfandbesitz wieder einzuziehen und schreckten dabei auch vor Gewaltanwendung nicht zurück.

Ein zweiter wesentlicher Unterschied zu Hessen und in diesem Zusammenhang auch zu Böhmen besteht in der Selbstverwaltung des Komitats, die – gleich wie oligarchisch sie tatsächlich agierte – zwischen den Verwaltern und den Verwalteten andere, vermutlich wirk­samere Mechanismen der Rückkopplung kannte. Wo eine aktive und generalisierte Standes­solidarität herrscht, ist enthemmte Eigensucht, oder die unvermittelte Übernahme von fremden (z.B. staatlichen) Beurteilungsmaßstäben für das Amtsgebaren nur begrenzt möglich. Es handelte sich zwar nicht um eine direkte Adels­demokratie, gleichwohl war die Über­rumpelung der ‚öffentliche Meinung’ des Komitats schwierig. Dass das Amtsgebaren von der ‚öffentlichen Meinung’ kritisch beobachtet und diskutiert wurde, dafür haben wir bis jetzt lediglich aus den 1830er Jahren, aus der Zeit des namhaften Reformpolitikers Kölcsey, Belege. Die Materialien der Becsky-Familie (u.a. auch die Korrespondenz von Amtsinhabern) aus dem 18. Jahrhundert werden gegenwärtig auf Spuren eines solchen Diskurses hin analysiert.

Unter solchen Umständen aktivieren Klientel- und Schutzverhältnisse vorhandene Rollen­erwartungen, die theoretisch auch anderen hätten zur Verfügung stehen können. Durch diese Aktivierung wird die Gewährung von Schutz und Unterstützung der Amtsträger und die Dankbarkeit – in Form der Wiederwahl und einer entgegenkommender Amtsführung in der nächsten Periode, wenn die schutzbedürftige Familie Amtsträger hervorbringt – jedoch personalisiert, längerfristig angelegt und befestigt – innerhalb der allgemeinen, unpersön­lichen Rollenerwartung. Das sollte betont werden in Anbetracht der Anregung von Heiko Droste (externer Teilnehmer der Arbeitstreffen in Neuhaus und Budapest), zwischen informellen Beziehungen im allgemeinen und Klientelverhältnissen im besonderen zu unterscheiden. Er konnte in seiner Untersuchung der schwedischen Diplomatie eine explizite Terminologie, die rituelle Annahme oder Verweigerung des Klientelstatus’ herausarbeiten. Eine solche explizite Markierung des Klientenstatus’ konnte bisher in den ungarischen Materialien nicht gefunden werden.

Die Unterscheidung zwischen sich spontan formierenden informellen Beziehungen und solchen Verhältnissen, in die sich die Parteien als Ergebnis einer strategischen Entscheidung einlassen und einer weit verbreiteten kulturellen Praxis, ist für die Arbeit des Projekts wichtig und relevant. Dadurch wird jedoch aber eine Reformulierung von einigen Forschungsfragen notwendig. Wenn Klientelverhältnisse nicht durch besondere ‚Markierungen’ im Agieren oder in der Selbstdarstellung der Handelnden ausgewiesen sind, bieten Detailanalysen, historisch-anthropologische Methoden eine Alternative. Allein, die sind nicht flächendeckend durchzuführen. Konflikte geben aber das Untersuchungsfeld vor: Wenn man kein genaues Bild von Allianzen hat, kann man ex negativo, aus der Karte der Feindschaften zumindest die potentiell möglichen Verbindungen ablesen. Just weil die Rechtsprechung im Komitat umständlich und langwierig war, hatten die Verhältnisse, die die Konfliktparteien trennten, auch lange Bestand. Anhand der Prozesse, die geführt worden sind, wird derzeit ein Katalog der Feindschaften aus den Findbüchern des Komitatsgerichtes entwickelt. Wenn Mitglieder von Familie A mit der Familie B während dreißig Jahren prozessierten, dann ist anzunehmen, dass sie während dieser Zeit eine umfassende Feindschaft hegten, die Klientelverhältnisse zwischen einzelnen Familien­mitgliedern effektiv verhinderte. Es ist dadurch eine Eingrenzung des sozialen Feldes, auf dem nach Klientelverhältnissen zu suchen ist, möglich.

Innerhalb dieses Feldes wird das Handeln der Amtsträger auf spezifische begünstigende Verhaltensweisen geprüft, um aus der Menge der potentiellen Freundschaften die festen Klientelverbindungen auszusieben. Dabei wird systematisch unterschieden zwischen den Klientelverhältnissen innerhalb des Komitatsadels und zu denjenigen Familien, die entweder durch Bildung und Beruf oder durch ihren Dienst für die Magnatenfamilie von auswärts kommend im Komitat Fuß fassten. Die Forschungshypothese über Klientelbildung in den Komitatsorganen zielt auf dauerhafte, stabile, auf Gegenseitigkeit beruhende persönliche Beziehungen ab. Die aus diesen Verhältnissen hervorgegangenen Mikrostrukturen können die Makrostrukturen der Standeszugehörigkeit und des Besitzes überlagern, tragen jedoch die spezifischen Merkmale der Situation, in der sie entstanden sind.

3. Die Landgrafschaft Hessen-Kassel und das Amt Grebenstein

Das Amt Greben­stein schloss sich nördlich an die hessische Residenzstadt Kassel an. Im Amt lagen zwei Klein­städte, die Amts­stadt Grebenstein mit (um 1800) etwa 1.800 Einwohnern und die Landstadt Immen­hausen mit 1.100 Einwohnern. In Grebenstein befand sich der Sitz des Amtmanns, des Rentmeisters und des reformierten Metropolitans der Klasse Grebenstein. In vier Kirchdörfern, fünf Haufendörfern, fünf Weilern sowie auf drei landesherrlichen Domänenvorwerken und einem Adelsgut lebte die Mehrheit der etwa 7.000 Amtseinwohner.

a) Fürstliche und kommunale Institutionen und ihre Amtsträger

Die Untersuchung konzentriert sich bisher zum einen auf das landgräfliche Amtspersonal, zum anderen auf den Magistrat der Stadt Grebenstein. Im 18. Jahrhundert handelte es sich bei den fürstlichen Amtsträgern um den Rentmeister, den Amtschultheißen, den Amtsdiener und den Landknecht. Sie wurden auf Vorschlag der Regierungskanzlei in Kassel vom Land­grafen ausgewählt, ernannt, instruiert und kontrolliert.

Der Rentmeister gehörte zur Kammer­verwaltung; ihm oblag die Rechnungs­führung über die Natural- und Geldabgaben der Hintersassen und Pächter des Fürsten, über die Steuern und Dienste aller Amtsuntertanen, sowie die Aufsicht über die Kontributions- und Licent­einnehmer und die Stadtkämmerer. Der Amtschultheiß war in erster Linie Richter, denn das landgräfliche Amt Grebenstein hatte die Zivil- und Policey-Gerichtsbarkeit erster Instanz für die Einwohner in den Dörfern und Weilern inne. Verstöße der Landbevölkerung gegen die ‚gute Policey’ wurden vom jährlich stattfindenden Landgericht sanktioniert, das unter seiner Leitung stand. Zudem leitete er die wöchentlich statt­findenden Sitzungen des Stadtgerichts Greben­stein und das dreimal jährlich abgehaltene Gogericht, das Vergehen in der städtischen Feldmark abstrafte. In Kriminalfällen führte der Amtschultheiß die Voruntersuchung. Wenn ein Bürger der Stadt Grebenstein beteiligt war oder wenn sich das Verbrechen im Stadtgebiet zugetragen hatte, wurde ein peinliches Gericht ‚gehegt’, bestehend aus Schöffen, die in Grebenstein und in den umliegenden nieder­hessischen Städten Ratsämter innehatten. Auch diesem – höchst selten einberufenen – peinlichen Gericht stand der Amtschultheiß vor. Kriminalfälle, die sich auf dem platten Lande ereigneten, wurden – zumindest seit dem 18. Jahrhundert, vorher ist die Situation noch ungeklärt – vor dem für die Provinz Niederhessen zuständigen Kriminalgericht in Kassel verhandelt.

Die Aushebung und Musterung von Rekruten, die Führung von speziellen Untersuchungen und die Berichterstattung an die Kassler Zentrale galten als gemeinsame Aufgaben von Amtschultheiß und Rentmeister, die entsprechend als die „Beamten in Stadt und Amt Grebenstein“ bezeichnet wurden. Sie beschäftigten einen oder mehrere Schreiber auf privat­vertraglicher Basis, die unter ihrer Aufsicht die Protokolle und Rechnungen führten. Diese Skribenten standen demnach in keinem unmittelbaren Verhältnis zum Landesherren. Amtsdiener und Landknecht (im späten 18. Jahrhundert: Landbereiter) dienten als Vollstreckungsorgane, die den landgräflichen Beamten unmittelbar unterstanden. Reichten deren Kräfte nicht aus, den fürstlichen Befehlen Nach­druck zu verleihen, musste man auf die kommunalen Exekutiv­organe zurückgreifen, war also auf die Kooperation mit den Land- und Stadtgemeinden angewiesen.

Der Magistrat der Stadt Grebenstein wurde von einem amts­führenden Bürgermeister geleitet. Ihm standen zwölf Ratsverwandte (unter ihnen der zweite Bürgermeister), der Kämmerer und der Stadt­aktuar zur Seite. Dem Magistrat unterstanden eine ganze Reihe von subalternen Funktionsträgern, der Stadtförster, der Brauverwalter, die beiden Baumeister, der Stadt­musicus, der Türmer, zwei Nachtwächter, zwei Schweinehirten, zwei Kuhhirten und neun Schäfer. Der Stadtrat war weitgehend autonom: Ausscheidende Ratsherren wurden durch Kooptation ersetzt und die Bürgermeister jährlich an Michaelis aus ihren Reihen mit einfacher Mehrheit gewählt. Den Stadtaktuar bestellte der Magistrat aus eigener Machtvoll­kommenheit. Um gültig zu sein, bedurften Wahlen und Bestallungen jedoch der landes­herrlichen Approbation und der Eidesleistung vor den fürstlichen Beamten. Der Magistrat leitete die Stadtverwaltung und kontrollierte die Arbeit des Stadtkämmerers, dessen Rechnungen gleich­wohl gemeinsam mit den fürstlichen Beamten „abgehört“ wurden, d.h. auf ihre rechnerische Richtigkeit und Übereinstimmung mit den städtischen Statuten und den landesherrlichen Ordnungen geprüft wurden. Bis ins 18. Jahrhundert hinein bildeten Bürgermeister und Ratsverwandte gemeinsam mit dem Amtschultheißen das Stadtgericht: Der landesherrliche Richter verkündete die Urteile, die zuvor vom Magistrat als den Gerichtsschöffen ‚gefunden’ worden waren. Das Protokoll führte der Stadtaktuar, der jedoch kein Stimmrecht hatte. Wir haben es demnach im Fall der Landstadt Grebenstein mit einem fürstlich-kommunalen Kondominat zu tun.

Dem als städtische Obrigkeit auftretenden Magistrat standen als Repräsentanten der Gemeinde die sieben sogenannten „Gemeinsherren“ gegenüber, deren Wortführer die Bezeichnung „Gemeindebürgermeister“ trug. Die Gemeinsherren, auch „Freunde der Gemeine“ genannt, waren jedoch keineswegs unabhängig, sondern wurden vom Magistrat bestimmt. Die Amtszeit eines Gemeinsherren war nicht auf eine bestimmte Zahl von Jahren begrenzt. Erst wenn er durch Tod, Rücktritt oder Aufrücken in den Magistrat ausschied, wurde seine Position neu besetzt. Das Amt eines Gemeinsherren galt als Vorbereitung auf die Würde eines Ratsherren. Die insgesamt sechs Zünfte der Leineweber, der Bäcker, der Fleischer, der Gerber und Schuhmacher, der Schneider sowie der Schmiede und Schlosser spielten in Grebenstein offiziell keine politische Rolle; der informelle Einfluß der Handwerke mag gleichwohl bedeutend gewesen sein.Hinweise auf die Kirchen- und Sittenzucht finden sich weder in den Protokollen des Stadtgerichts noch in der Überlieferung des Amtes. Die Zuständigkeit für die Ahndung von Sittlichkeitsdelikten und deren Folgen (Vaterschaftsklagen, Klagen wegen nicht gehaltener Ehever­sprechen) lag beim Konsistorium in Kassel, das sich zur Hälfte aus geistlichen Konsistorialräten, zur anderen Hälfte aus Räten der Regierungskanzlei zusammensetzte. Bislang ist die entsprechende Akten­überlieferung (Bestand Protokolle II Kassel, CE 5: Regierung Kassel, Konsistorial­protokolle) nicht eingesehen worden, so dass nicht geklärt ist, wer Anzeige erstattete und die lokalen Unter­suchungen führte, die weltlichen Obrigkeiten oder die Pfarrer. Entsprechende Auswertungen werden in den beiden kommenden Jahren unternommen.

Zur Situation in den Landgemeinden ist für das 17. Jahrhundert vergleichsweise wenig zu sagen, da eine dichte Aktenüberlieferung erst seit der Reorganisation der hessischen Recht­sprechung und Verwaltung in den 1720er Jahren einsetzt. In den Dörfern war der Grebe (hessisch für Dorfschultheiß) die zentrale Figur innerhalb der lokalen Verwaltung. Die Greben wurden durch ein gestuftes Verfahren in ihre Ämter berufen: Auf Vorschlag der Gemeinde­versammlung schlugen die Amtschultheißen dem Fürsten zwei Kandidaten vor, wobei sie ihre Präferenz deutlich äußerten. Üblicherweise ernannte der Landgraf ohne weitere Nachfrage diesen Lieblingskandidaten. Das Verfahren sorgte dafür, dass die Dorfgemeinden in der Regel den Greben ihres Vertrauens erhielten. Im Konfliktfall saßen jedoch der Landes­herr und seine örtlichen Amtsträger am längeren Hebel. Im gesamten Untersuchungszeitraum nahmen die Greben eine Scharnierstellung zwischen den Amtsträgern der Landgrafschaft und der Dorfgemeinde ein. Sie waren die ‚berufenen’ Ansprechpartner des Territorialstaates und  konnten ihre Position dazu nutzen, die Informationen zu kanalisieren, die aus dem Dorf zu den landesherrlichen Behörden drangen und umgekehrt. Die Greben wurden nur dann umgangen, wenn sich die Dorfbewohner von ‚ihrem’ Greben nicht repräsentiert sahen und sich deshalb unmittelbar an die obrigkeitlichen Amtsträger vor Ort oder gar immediat an den Fürsten wandten.

Strukturell übten die Greben und die lokalen Amtsträger des Fürstenstaates ähnlich ‚janus­köpfige’ Funktionen aus: Beide waren von Vorgesetzten abhängig und austauschbar. Beide waren gleichwohl als ‚Makler der Macht’ zwischen der Zentrale und ihrem örtlichen Wirkungsfeld von größter Bedeutung. Sie hatten gewisse Spielräume bei der Gestaltung ihrer Rolle, die sie mehr als Treuhänder und Gewährs­leute ihres Sprengels oder eher obrigkeitlich interpretieren konnten. Ein hohes Maß an Flexibilität war jedenfalls erforderlich, um sich in dem zwischen dem Fürsten, seinen Behörden, den Gemeinden und Einzelpersonen umkämpften Feld widerstreitender Ansprüche auf Geltung, Prestige, Einfluss und materielle Vorteile zu behaupten.

b) Sozialprofil, Ausbildungswege und Karrieremuster der Amtsträger

Alle Studien zu den Amtsträgern der frühmodernen Staaten sind sich darin einig, dass deren Rekrutierung vorwiegend nepotischen Charakter trug. Für die Reichterritorien im 17. und 18. Jahr­hundert wurden regel­rechte Amtsträger­dynastien rekonstruiert. Die Deutung dieses Befundes unterliegt jedoch der einmal gewählten Perspektive: Wem an der Genese des modernen Staates gelegen ist, dem erscheint dies als eine zwar bedauerliche, aber unvermeid­bare Begleiterscheinung des noch unfertigen Bürokratisierungsprozesses. Nepotismus wird sich unter diesem Blickwinkel in dem Maße verflüchtigen, in dem das Verwaltungssystem seine Modernität entfaltet.

Studien, die vor allem auf die Funktions­weise frühneuzeitlicher Recht­sprechung und Verwaltung im jeweiligen zeitlichen und situativen Kontext abzielen, betonen im Gegensatz dazu die spezifische Rationalität nepotischer Rekrutierung: Da es allzeit mehr Anwärter als freie Stellen gab, spielte bei Einstellung und Beförderung Protektion eine maßgeb­liche Rolle. Die bereitwillige Hinnahme des Nepotismus bedeutete allerdings nicht, dass Qualitäts­standards außer Kraft gesetzt wurden, sondern dass die fachliche Schulung von Bewerbern lediglich eine notwendige, keine hinreichende Bedingung für die Anstellung darstellte. Nun erwarb ein Bewerber, der aus einer Amtsträgerfamilie stammte, im Zuge seiner Primär­sozialisation den für das Amt erforderlichen Habitus. So gesehen war ein nepotisches Rekrutierungssystem nicht von vornherein weniger erfolgreich – im Sinne von Qualitäts­sicherung – als ein System, das auf einem ausgefeilten Prüfungswesen beruht.

Zu den üblichen Bedingungen lokaler Rechtsprechung und Verwaltung im Alten Reich gehörte es, dass viele Landesherren bei der Bestallung und Beauftragung von örtlichen Amtsträgern nicht autonom waren. In den meisten geistlichen Territorien und auch in manchen weltlichen nahmen die Landstände Einfluss auf die Personal­politik. Oftmals bildeten Konfession, Standes-Zugehörigkeit und regionale Herkunft der Kandidaten Zulassungs­kriterien, über deren Einhaltung die Stände eifrig wachten. Solche Macht hatten die hessen-kasselischen Landstände nicht, gleichwohl galt ein informelles Indigenat: Alle herrschaft­lichen Amtsträger im Amt Grebenstein stammten aus der Landgrafschaft, zumeist aus Familien, die seit Generationen Beamte und Offiziere des Landgrafen hervorgebracht hatten. Das ist kein lokales Spezifikum, sondern lässt sich auch für die anderen hessischen Ämter feststellen.

Um Mitglied des städtischen Magistrats zu werden, musste man das Bürgerrecht besitzen. Entsprechend waren die meisten Bürgermeister und Ratsverwandte gebürtige Grebensteiner; zuweilen findet sich jedoch auch ein wohlhabender Zugewanderter unter ihnen, der jedoch schon länger dort lebte. Auch die Stadtaktuare waren in der Regel Söhne der Stadt Grebenstein.

Immer wieder ist der Verdacht geäußert worden, diese Form der regionalen oder lokalen und zugleich nepotischen Rekrutierung sei zu Lasten der professionellen Qualifikation gegangen. Einige neuere Studien verdeutlichen, dass zumindest seit Mitte des 17. Jahrhunderts für lokale Amtsträger mit Funktionen in der Rechtsprechung reichsweit ziemlich verlässliche Qualifi­kationsstandards galten. So war es in den geistlichen wie in den weltlichen Territorien üblich geworden, dass auch an den Untergerichten zumindest ein Amtsträger tätig war, der ein Jurastudium absolviert hatte.

Die Befunde zu Stadt und Amt Grebenstein im Zeitraum zwischen 1648 und 1806 fügen sich nahtlos in dieses Muster. Da der Magistrat nicht nur die politische Spitze bildete und die Stadtverwaltung leitete, sondern auch den Kern des Stadtgerichts ausmachte, galt es offenbar als unerlässlich, dass ihm mindestens ein akademisch geschulter Jurist angehörte. Auch wenn die Mehrheit der Ratsverwandten juristische Laien waren, fanden sich bis in die 1730er Jahre zumeist mehrere Absolventen eines Universitätsstudiums unter ihnen. Namentlich die amtsführenden Bürgermeister waren mehrheitlich Juristen, die Stadtschreiber durchgängig. Dadurch war hinreichende Expertise gegeben, um innerhalb des Stadtgerichts dem ebenfalls juristisch geschulten Amtschultheißen Paroli bieten zu können.

Im Magistrat von Grebenstein war es während des 17. Jahrhunderts üblich, dass der Stadt­schreiber nach längerer Amtszeit zu den Ehren eines amtsführenden Bürgermeisters aufrückte. So amtierte Philipp Badden­hausen (1613-1675) von 1641 bis 1660 als Stadt­schreiber und wurde zwischen 1648 und 1667 insgesamt neun Mal zum Bürgermeister gewählt. Seinem Nachfolger Franz Müller (1634-1691), Stadtschreiber von 1660 bis 1678 gelang es zwischen 1671 und 1684 sieben Mal ins Bürgermeisteramt aufzurücken. Henrich Vilmar (1651-1707), Stadtschreiber von 1678 bis 1703, erlebte im Jahr 1703/04 nur eine Amtsperiode als Bürgermeister. Johann Christoph Müller (1674-?), jüngster Sohn des Franz Müller, folgte seinem Vater ins Stadtschreiberamt zwischen 1703 und 1722. Er wurde 1711 zum Bürgermeister gewählt. Mit ihm endete diese Tradition: Die Stadtaktuare des 18. Jahr­hunderts entwickelten nicht länger Aspirationen auf ein kommunales Ehrenamt, sondern strebten zumindest teilweise in den fürstenstaatlichen Dienst. So avancierte Johann Daniel Kersting (1690-1762), Stadtschreiber in den Jahren 1722 und 1723, zum Amtschult­heißen in Grebenstein und übte diese Amt bis 1760 aus.

Damit ist ein Verhaltenswandel indiziert, der zeitlich zusammenfiel mit tief ­greifenden normativen Veränderungen. Die Untergerichtsordnung von 1732 stutzte nämlich die gericht­lichen Kompetenzen der Magistrate deutlich zurück und übertrug sie auf den herrschaftlichen Amtschultheißen. Das wird weiter hinten näher ausgeführt. Zwar blieb es auch im 18. Jahr­hundert dabei, dass die Stadtaktuare ein Jurastudium absolviert hatten, schon damit sie die Gerichtsprotokolle angemessen führen und den Magistrat rechtlich beraten konnten. Es entfiel gleichwohl die Notwendigkeit, dass auch der amtsführende Bürgermeister ein Jurist zu sein hatte. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts trat eine ‚Verstadt­bürgerlichung’ ein: Nun waren es Handwerksmeister, Kaufleute und Wirte die in das Amt des Bürgermeisters gewählt wurden. Ihre verwaltungspraktischen Kenntnisse erwarben sie im Verlauf eines cursus honorum, der sie über die Ämter eines ‚Freundes der Gemeine’, Ratsver­wandten und Kämmerers schließ­lich ins Bürgermeisteramt führte. Die jährliche Wiederwahl des Bürgermeisters wurde dabei offenbar zur Formalie; jedenfalls finden sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer kontinuierlichere Amtszeiten.

Die beiden leitenden Amtsträger des Landgrafen gehörten erkennbar unterschiedlichen Sphären an: Während die Amtschultheißen durch die Bank ein Studium der Rechte absolviert hatten, traf das für die Rentmeister nur in Ausnahmefällen zu. Stattdessen erwarben sie die nötigen Fachkenntnisse in der Abgabenkontrolle, Protokollführung und Rechnungslegung als Gehilfen eines Rentmeisters oder als Kammerschreiber in Kassel, bevor sie ihre erste selbständige Stellung als Rentmeister antraten. Um bestallt werden zu können, benötigten sie erheb­liches Kapital, das sie als Kaution hinterlegen mussten. Rentmeister wechselten oftmals ein- oder zweimal von einem Ort zum anderen, vermutlich auf der Suche nach profitableren Konditionen. Diese Frage muss jedoch noch genauer untersucht werden. Johann Karl Otto Arstenius (1687-1733), wirkte zunächst bis 1715 als Rentmeister in Rotenburg/Fulda, bevor er nach Grebenstein bestallt wurde, wo er bis zu seinem Tode amtierte. Johann Benjamin Limberger (1684-?) war seit 1715 bis 1720 als Schultheiß der Adelsfamilie von Linsingen in Jesberg tätig und wechselte 1734 in die fürstlichen Dienste eines Rentmeisters in Grebenstein. Es gab aber auch alternative Lebenswege, wie im Fall des Georg Kehr (etwa 1626-1704), der nach seiner Tätigkeit als Rentmeister in Grebenstein von 1675 bis 1688 ein Gut in Ihrings­hausen erwarb, das er selbst bewirtschaftete. Im 18. Jahrhundert bildete die Position eines Rentmeisters häufig auch eine Karrierestation von bürgerlichen Offizieren. Der Capitain W.L. Möller übernahm von 1752 bis 1760 das Rentmeisteramt in Grebenstein, ließ sich jedoch im Siebenjährigen Krieg im Rang eines Hauptmanns reaktivieren. Statt seiner übernahm Johann Christoph Geise (1723-1787), zuvor Capitain bei den Leibdragonern, die Stellung des Grebensteiner Rentmeisters und amtierte bis 1776. Auffällig ist der Befund, dass es keine Fälle eines Bewährungsaufstiegs in höherrangige Bedienungen in Kassel gab. Wer einmal in die Stellung eines lokalen Amtsträgers eingerückt war, hatte sich damit für die Zukunft festgelegt.

Das gilt auch für die lokalen Amtsträger in der herrschaftlichen Justiz. Im 17. Jahrhundert dominierten Angehörige der Familie Schotten die lokale Justiz in Grebenstein. Seit 1638 amtierten in ununterbrochener Folge Großvater, Vater und Sohn als Amtschultheißen und kaiserliche Notare. Als ob sie diese Kontinuität noch zusätzlich bekräftigen müssten, hörten alle drei auf den Vornamen Franz. Dieses ‚lokalistische’ Muster wurde im 18. Jahrhundert durchbrochen. Nun berief der Landgraf Juristen nach Grebenstein, die zuvor oder danach andernorts als lokale Richter und Verwaltungsbeamte wirkten. Typisch ist die Laufbahn von Johann Jacob Biedenkap (1728-1800). Nach dem Jurastudium in Marburg war er von 1754 bis 1762 als Advokat an den Obergerichten in Kassel tätig. Er erhielt 1762/63 in Grebenstein seine erste Bestallung in der lokalen Justiz der Landgrafschaft. Anschließend wechselte er auf die Position des hessischen Reservatkommissars und Lehnschreibers in Bovenden bei Göttingen, kam 1766 in die Grebensteiner Gegend zurück und wurde Amtschultheiß im benachbarten Hofgeismar und erreichte 1776 mit der besonders reputierlichen Stellung des Oberschultheißen in Karlshafen den Höhepunkt seiner Ortsbeamten-Karriere. In dieser Stellung wirkte er bis kurz vor seinem Tode. Sowohl im 17. als auch im 18. Jahrhundert entstammten die Amtschultheißen einer territorialen Amtsträgerelite, die man wegen ihres dem Adel nachgebildeten privilegierten Gerichtsstandes als ‚Schriftsässige’ bezeichnete. Dabei handelt es sich um eine recht über­schaubare Zahl von Familien bürgerlicher Herkunft, deren Angehörige zumeist schon vor Generationen aus dem stadtbürger­lichen Milieu in den Fürsten­dienst hinüber gewechselt waren. Diese Familien waren durch Ehen und Patenschaften derart eng miteinander versippt, dass man mit Fug behaupten kann, die örtliche Recht­sprechung und Verwaltung der Land­grafschaft Hessen-Kassel sei im Wesentlichen ein ‚Familienunternehmen’ gewesen.

c) Besoldung, Amtsgebaren und Selbstverständnis der landesherrlichen Amtsträger

Das Amt als territoriale Basisinstitution diente nicht nur der Rechtsprechung und der ‚Policierung’, sondern war zugleich ein Abschöpfungsinstrument im landesherrlichen Auftrag. Hierdurch ergaben sich Zielkonflikte zwischen Rechtswahrung und Wohlfahrts­förderung einerseits und der Erhebung von Abgaben, Steuern und Diensten andererseits. Hinzu kamen die bekannten Probleme, die sich aus der Alimentation der lokalen Amtsträger ergaben. Wie allerorten im Alten Reich bezogen sie auch in Hessen-Kassel ein Misch­einkommen, das neben geringfügigen monetarisierten Fixgehältern vor allem Naturalien, die Nutzung von Ländereien und Untertanendiensten umfasste. Damit wurde die Ausbeutung der obrigkeitlichen Stellung des Amtsträgers gleichsam prämiert. Hinzu kamen Sporteln, die man wohlwollend als leistungs­abhängige Besoldungsanteile interpretieren kann, die es jedoch nahelegten, Verfahren zu verschleppen. Die lokalen Amtsträger des Fürstenstaates lebten mithin im Wortsinn von ihrem Amt, was einer unabhängigen und unparteiischen Schieds­richterfunktion zuwiderlief und sie in den Augen der Amtsuntertanen verdächtig machte.

Ihre obrigkeitlichen Funktionen prägten das Selbstverständnis und den Habitus der landes­herrlichen Amtsträger in hohem Maße. Deshalb scheinen zwischen Rentmeistern und Amtschultheißen systematische Unterschiede bestanden zu haben. Rentmeister waren zweifelsfrei vom Fürsten mit der Abschöpfung von möglichst hohen Steuern, Abgaben und Diensten beauftragt. Sie selbst sahen sich als „gehorsame Diener ihres gnädigen Herren“ und als „gute Haushalter“, die das legitime materielle Interesse des Fürsten zu wahren hatten. Die Form ihrer Alimentierung führte zumindest zu einer partiellen Übereinstimmung der Interessen zwischen Rentmeistern und dem Fürsten, denn je höher die „Amtsintraden“ insgesamt ausfielen, desto größer waren die eigenen Einkünfte. Die Aufgaben eines „guten Haushalters“ im landes­herrlichen Interesse erforderten die prompte und möglichst restlose Erhebung aller Abgaben und Dienste, was die Rentmeister in einen systematischen Wider­spruch zu den Amtsuntertanen brachte. Sie sahen sich entsprechend häufig mit dem Vorwurf unchristlicher Hartherzigkeit und willkürlicher Strenge konfrontiert. Auch außerhalb akuter Konflikte begegneten ihnen die Untertanen taktisch, um die eigenen Belastungen möglichst zu minimieren. Entsprechend distanziert stellt sich das Verhältnis der Rentmeister zu ihrem lokalen Umfeld dar.

Ein Amtschultheiß hatte dagegen größere Aussichten, dass sein Amt und seine Person auf eine gewisse Akzeptanz bei der Bevölkerung stießen. Wenn er die fürstlichen Vorgaben geschmeidig zu interpretieren wusste und sich durch geschicktes Austarieren zwischen punktueller Strenge und gewohn­heitsmäßiger Leutseligkeit eine gewisse Handlungs­freiheit gegenüber seinem lokalen Umfeld bewahrte, dann konnte er darauf rechnen, dass sein Amtshandeln als Teil der legitimen Ordnung angesehen wurde. Dazu trugen seine ‚Service­funktionen’ in der Ziviljustiz nicht unwesentlich bei: Wer wegen eines Kredits, eines Grund­stück­geschäftes oder aufgrund zivilrechtlicher Klagen mit dem Amtschultheißen zu tun hatte, für den mochte er zwar als respekterheischende, gleichwohl positiv konnotierte Person gelten.

Ob dies auch für die Unterschichten galt, muss jedoch bezweifelt werden, denn ihnen begegnete der Amtschultheiß als exponierter Vertreter eines Kontroll- und Unterdrückungs­apparates. Sie waren von der strafenden Seite seiner Amtstätigkeit in hohem Maße betroffen, ohne von den dienstleistenden oder konfliktregulierenden Seiten in gleicher Weise zu profitieren. Unter den Delikten, die auf den Land- und Rügegerichtstagen abgestraft wurden, dominierten die typischen Subsistenz­delikte der Unterprivilegierten, das Hüten des Viehs auf den jahres­zeitlich hierfür gesperrten Feldern und der Diebstahl von Brennholz in den Gemeinde- und Staats­forsten. Und die Männer, die in der hessischen Armee dienten, stammten vorzugs­weise aus den Familien von Kleinbauern und Tagelöhnern. Sie sahen im Amtschultheißen denjenigen, der die Musterung der jungen Mannschaft durch­führte, dem sie ihre Anträge auf Freistellung vom Militär über­brachten und der regel­mäßig durch sein Gutachten dafür sorgte, dass sie ihre Haut zum Vorteil des Landgrafen zu Markte tragen mussten. Diese Erfahrungen mit dem Amtschultheißen als Vertreter der Obrigkeit verdunkelten mögliche positive Erfahrungen mit ihm als Wahrer einer unparteiischen Justiz.

Überlagert wurden die sozialen Unterschiede durch quer dazu verlaufende persönliche Loyalitäten und Feind­schaften. Das lassen Formulierungen erkennen wie die des Greben Jacob Reus aus Holtzhausen im Jahre 1723, der Schultheiß Kersting sei sein „Capitalfeind“ von dem er „nichts gutes versehen darf“. Das Geschick eines Amtsträgers war gefordert, sich in einem Feld der Sympathien und Aversionen zurechtzufinden. Die Einbettung der Recht­sprechung und Verwaltung in den jeweiligen lokalen Zusammenhang, die Abhängigkeit der örtlichen Obrigkeit von der oft geringen Kooperationsbereitschaft ihrer Umgebung und die daher rührende Schwäche des Territorialstaates bei der Durchsetzung von Normen sind in der neueren Justizforschung hinreichend betont worden. Darüber sollte jedoch der obrig­keitliche Charakter des Fürstenstaates, seine Fähigkeit, vielen Anordnungen eben doch Nachdruck zu verleihen und wachsende Steuereinnahmen sowie große Armeen aus ihrem Herrschaftsgebiet herauszupressen, nicht in Vergessenheit geraten. Für die lokalen Amtsträger bildete die soziale und ständische Fraktionierung des Untertanen­verbandes die Grundlage dafür, dass sie sich als Obrigkeit in Szene setzen konnten. Vieles hing von dem Geschick des einzelnen Beamten ab, ob er situativ angemessen agierte und Koalitionen zu schmieden verstand, die seine Stellung stützten. Da lokale Herrschaft personalisierte Herrschaft war, sind die individuellen Unterschiede von Amtsträger zu Amtsträger eben nicht akzidentiell, sondern ein für das System charakteristischer Faktor.

Anders als in großen zusammengesetzten Monarchien, in denen die zentralen Behörden kaum eine Möglichkeit hatten, die lokalen Amtsträger unmittelbar zu kontrollieren, war ein mittleres Reichsterritorium wie die Landgrafschaft Hessen-Kassel dazu sehr wohl in der Lage. Das hatte für das Selbstverständnis der örtlichen Beamtenschaft erkennbar Folgen. Der Gefahr der Verselbständigung lokaler Herr­schafts­träger wurde vor allem durch die Verfeinerung der Kontrollmechanismen vorgebeugt: Mit der Pflicht, regelmäßig Bericht zu erstatten und Rechnungen abhören zu lassen, wurde nach dem Westfälischen Frieden Ernst gemacht. Hinzu kamen regelmäßige Visitationen durch den advocatus fisci, einen Rat der Regierungskanzlei in Kassel. Mit der Analyse der Visitationsakten wurde begonnen und die bisherigen Befunde zeugen von der Effizienz dieses Kontrollmittels, das seine volle Wirksam­keit dadurch entfaltete, dass den örtlichen Körperschaften und jedem einzelnen Untertanen Gelegenheit gegeben wurde, Beschwerden vorzubringen. Es steht zu vermuten, dass die Integration der ‚Öffent­lichkeit des Amtes’ in die Herrschaftskontrolle die Legitimität des fürstlichen Regiments insgesamt spürbar steigerte.

Das Regiment des Fürsten in der Provinz stellt sich nicht nur in dieser Perspektive als ‚konsensgestützte Herrschaft’ dar. Das bedeutet allerdings nur, dass man den Konsens anstrebte, ohne jedoch den Konflikt zu vermeiden. So formuliert ein Gutachten des Regierungs­kollegiums in Kassel vom März 1748 über das Verhältnis zwischen landes­herrlichem Rentmeister und Amtmann einerseits und dem Magistrat der Stadt Grebenstein andererseits, wegen der „zwischen denen Beampten und dem Statt Magistrat gemeiniglich herrschenden Animosität“ solle man auf die Amtsführung des Stadtschreibers nur allgemein normkontrollierend aber nicht im Verwal­tungsalltag Einfluss nehmen, denn dessen Loyalität gelte legitimerweise dem städtischen Magistrat, dessen Auffassungen er im Konflikt – auch mit der Landes­herrschaft und den örtlichen Beamten – in juristisch einwandfreier Form zu vertreten habe. Dieser kühle und pragmatische Realismus ist bemerkenswert, stellt er doch divergierende Interessen billigend in Rechnung.

Kennzeichnend für die meisten Konflikte zwischen den Amtsuntertanen, dem Magistrat und den Vertretern der Landesherrschaft war, dass sie nicht agonal, sondern pragmatisch und häufig auf dem Rechtsweg ausgetragen wurden. Die landgräflichen Behörden setzten nämlich auf die Mitwirkung von Körperschaften und Individuen, indem sie beispielsweise den Magistrat oder die Zünfte der Stadt Grebenstein um Gutachten baten oder indem sie jedem Untertanen die Möglichkeit der rechtlichen Beschwerde bzw. der außergerichtlichen Immediateingabe einräumten. Nun soll hier beileibe kein Bild harmonischer Eintracht gemalt werden: So kam es mehrfach zu heftigen Konflikten, die sich zu handgreiflichen Protesten ausweiteten. Aber selbst die im Protest aufgestellten Forderungen richteten sich gegen einzelne Maßnahmen der Beamten am Ort, niemals jedoch stellten sie die Landesherrschaft als solche in Frage und zielten damit auf eine prinzipielle Veränderung des politischen Systems.

Stützend wirkten vermutlich die Herrschafts- und Rechtsrituale, die der heraus­gehobenen Stellung des lokalen Vertreters der Obrigkeit Rechnung trugen und ihn dennoch in den jeweiligen Schwur­verband einfügten. Hierzu zählten die Begrüßungsfeierlichkeiten für neue Amtsträger, die jährlichen Gerichts- und Rats­eröffnungen und die sich daran anschließenden Umtrünke. Im rituellen Akt fügte sich der Vertreter der Obrig­keit öffentlich sichtbar in eine überindividuelle Ordnung ein. Auch viele zentrale Verwaltungsakte erfolgten gleichsam im rituell-kommemorativen Modus, um durch Wiederholung herrschaft­lichem Handeln Geltung zu verschaffen. Dabei kam es zu einer engen Verschränkung von Mündlichkeit und Schrift­lich­keit, die auf die orale Tradition Rücksicht nahm und sie in die Schriftkultur integrierte.

Wie sahen sich die lokalen Amtsträger nun selbst? Ihre Identität speiste sich nicht unwesent­lich aus den wandelnden professionellen Anforderungen, die der Dienstherr an sie richtete und aus den praktischen Erfordernissen des Alltags. Zwar unterlagen die Autostereotype im Verlauf der Frühen Neuzeit einem Wandel, jedoch immer auf der Basis eines patriarchalen Selbst­verständnisses, das eine flexible Hand­habung des Amtes voraussetzte: Der Vollzug von Befehlen geschah in Ansehung der lokalen und individuellen Umstände. Dieser Praxis entsprach auch das von vielen Amtleuten gepflegte Selbstbild, in dem sich gerechte Strenge und väterlich-gütige Fürsorge paarten. Auf diese Weise konnte man habituell Distanz wahren, sich damit als dem Regierstand zugehörig ausweisen und doch überzeugt sein, nicht außerhalb des allgemein verbindlichen sittlichen Referenzsystems zu stehen. Dieses Selbstbild des strengen, gerechten und gütigen Hirten einer unmündigen Herde wies große Ähnlichkeiten mit dem Autostereotyp der Pfarrer und der Fürsten auf.

Im 17. Jahrhundert paarte sich dieser Paternalismus mit dem Bild der „christliche Obrigkeit“. Die Amtsträger sahen sich vor allem als Gewährsleute für die konfessionelle Integrität ihres Sprengels. Im 18. Jahrhundert wurde das paternalistische Modell in anderer Richtung weiter­entwickelt: Nun gewann ein Autostereotyp an Bedeutung, mit dem die Amtsträger sich in erster Linie als akademisch geschulte Juristen oder Kameralisten interpretierten. Sie wähnten sich im Zustand überlegener Kenntnisse, die ihren Anspruch begründeten, schlecht­hin jeden Sachverhalt besser beurteilen zu können als die davon betroffenen Laien. Noch die ‚aufgeklärten’ Amtsträger des späten 18. Jahr­hunderts phantasierten die Einwohner ihres Amtssprengels als dankbare Empfänger von Wohltaten, nicht jedoch als politisch handelnde Subjekte, die sich womöglich im Prozess einer Selbst­aufklärung aus der politischen Unmündigkeit lösten.

Es erhebt sich die Frage, unter welchen Bedingungen diesem Selbstbild von den Amtsunter­tanen nicht widersprochen wurde und wann sie es negierten. Das Verhältnis der Amtsträger zu ihrer Umwelt zeichnete sich ja durch ein ausgeprägtes hierarchisches Gefälle aus. Maßgeblich hierfür waren die rechtliche Privilegierung und die obrigkeitlichen Funktionen der Ortsbeamten, häufig auch die kulturelle Distanz zu den meisten Einwohnern ihres Sprengels. Gleich­wohl nahmen viele Untertanen mit den lokalen Amtsträgern bereit­willig Kontakt auf. Sie traten nämlich in zweifacher Hinsicht als Makler der Staatsmacht in der Provinz auf, zwar als Vertreter des fürstlichen Willens, zugleich aber auch als Fürsprecher ihres Verwaltungs­sprengels in der Residenz. Dadurch erschienen sie den Untertanen einerseits suspekt, andererseits unentbehrlich. Deshalb benötigten lokale Herrschaftsvertreter und Amtsuntertanen lediglich eine begrenzte Menge von gemeinsamen sozial-moralischen Referenzpunkten, unter Umständen lediglich den Konsens über Billigkeit und Gerechtigkeit, wie sie der christliche Glaube bereithielt.

Hinzu kam die Schiedsrichterfunktion der landesherrlichen Amtsträger, die geradezu darauf beruhte, dass sie eine Außenseiterposition einnahmen. Parallel zur Welt der Herrschaft und der obrigkeitlichen Direktiven existierte eine Welt der sozialen Ordnungsnormen und der sozialen Kontrolle, die meist unabhängig von behördlichem Wirken, manchmal gegen die Herrschaft, zuweilen aber auch Hand in Hand mit der Obrigkeit funktionierte. Die Handlungs­spielräume der lokalen Amtsträger beruhten nun meist weniger auf ihren unmittel­baren Macht­mitteln, mit denen sie Gehorsam hätten erzwingen können, als auf ihrer Funktion als einer unabhängigen Instanz, die außerhalb der Macht­strukturen der lokalen Gesellschaft in den Städten und Dörfern stand. Sie sollten als Verwalter eines über­parteilichen Rechts wirken, und als solche wurden sie auch angerufen. In welchem Maße die sozialen Beziehungen der Amtsträger ihre Entscheidungen beeinflußten, wird ein wichtiger Gegenstand der weiteren Projektarbeit sein.

d) Praxis und institutioneller Wandel des Stadtgerichts

Demnach kommt den justiziellen Funktionen der Amtsträger und deren Akzeptanz durch die Bevölkerung zentrale Bedeutung für die Praxis lokaler Herrschaft zu. Zur Untersuchung dieses Aspekts wurde zunächst das Grebensteiner Stadtgericht betrachtet, das in einem zweiten Schritt mit dem Amtsgericht verglichen werden soll. Nähert man sich der Praxis lokaler Justiz im Untersuchungszeitraum von Seiten des institutionellen Wandels, so stellt er sich auf den ersten Blick undramatisch dar. Vergleicht man als normative Grundlagen die „Spezialbeschreibung“ im Kataster von 1776 mit dem Salbuch aus dem Jahre 1571, so ist die jüngere Darstellung der gerichtlichen Rechte und Gewohnheiten in der Stadt Grebenstein zwar präziser und ausführlicher, unterscheidet sich jedoch in den Kernaus­sagen keineswegs vom Salbuch, das zweihundert Jahre hindurch als maßgeblich galt. Hinter dieser oberfläch­lichen Kontinuität verbarg sich allerdings ein durchaus gravierender Wandel der Normen und der Praxis. Eine exemplarische Detailanalyse der Grebensteiner Stadt­gerichts­protokolle aus dem Jahre 1682 und den Jahren 1731 bis 1733 eignet sich gut dazu, diese Veränderungen vor Augen zu führen. Aufgrund des immensen Umfangs der Protokolle wurden Stichproben zugrunde gelegt, denen weitere Stichproben für Jahre, in denen die Quellenlage besonders gut ist, folgen werden.

Die Protokolle des Stadtgerichts im Jahrgang 1682 stammen weitgehend von einer Hand, nur in Einzelfällen wurde der Schreiber durch einen anderen vertreten. Ein kausaler Zusammen­hang zwischen dem Schreiberwechsel und dem Inhalt der jeweils protokollierten Sitzung ist nicht erkennbar. Der Aufbau der Protokolle variiert leicht je nach Schreiber. Sämtliche vom ‚Hauptschreiber’ verfassten Sitzungsberichte enthalten einen formalisierten Kopf, in dem Ort und Datum der abgehaltenen Sitzung sowie die bei dieser Sitzung anwesenden Amtsträger genannt werden. Die Nennung der Anwesenden fehlt bisweilen bei Protokollen, die von dem zweiten Schreiber stammen. Beide Schreiber folgen jedoch dem gleichen Aufbauschema des Protokolltextes. In der Regel werden die Namen des Klägers und des Beklagten mit Nennung ihrer jeweiligen Funktion im Prozess in eine Zeile gesetzt. Seltener findet sich eine formular­ähnliche Darstellung, bei der Kläger und Beklagter zur besseren Unterscheidung unter­einander gesetzt werden. Gründe für die unterschiedliche Darstellung sind aus den Verhandlungsgegenständen nicht ersichtlich.

Untersucht wurden zunächst die Besetzung des Gerichtes, vor allem ob die vorgesehene Zahl von Schöffen bei jeder Sitzung anwesend war, die Häufigkeit und die Periodizität der Sitzungen und die Anzahl der bei jeder Sitzung behandelten Fälle. Eine Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist, ob es einen bestimmten Wochentag gab, an dem das Gericht zusammentrat und der den Bewohnern der Stadt als Sitzungstag bekannt war oder ob es lediglich auf Antrag eines Klägers zusammentrat. Die personelle Besetzung des Gerichts mit zwölf Schöffen, dem Richter und einem gelehrten Stadtschreiber lässt sich nicht für alle Sitzungen feststellen. Am Anfang eines jeden Sitzungstages wurde vom Schreiber vermerkt, welche Vertreter von Rat und Gemeinde anwesend waren; häufig waren dies deutlich weniger als vierzehn Personen. Einzelne Sitzungen wurden unter dem Hinweis vertagt, das Kollegium sei nicht vollzählig versammelt und eine Entscheidung könne daher nicht getroffen werden. Dies betraf insbesondere solche Fälle, in denen einer der Prozessbeteiligten einen Eid anbot.

Insgesamt wurden im Verlauf von 51 Sitzungen innerhalb dieses Jahres 194 Gegenstände verhandelt, von denen einige allerdings wiederholt vorgebracht wurden. Ohne die Wieder­aufnahmen beläuft sich die Zahl der Fälle auf 173. Als Fall wird das Aufeinandertreffen zweier Parteien zur Klärung eines ungeklärten oder strittigen Sachverhaltes vor Gericht verstanden, dessen Verhandlung sich über eine oder mehrere Sitzungen erstrecken konnte. Bei der Ermittlung der Gesamtzahl aller Fälle werden daher nur solche Verhandlungen berück­sichtigt, bei denen die Konstellation „Kläger – Beklagter – Verhandlungsgegenstand“ bei keiner früheren Sitzung in gleicher Weise bestanden hatte.

Ohne dass das Gericht jeden Dienstag zusammen getreten wäre, scheint dieser Tag der haupt­sächliche Sitzungstag gewesen zu sein. Im Gegensatz zu allen anderen Wochentagen gab es mindestens einmal pro Monat eine Sitzung, die an einem Dienstag stattfand. Es ist auffällig, dass bei den Dienstagssitzungen eine deutliche größere Zahl von Amtsträgern anwesend waren als an den anderen Tagen. Zudem wurde mehr als die Hälfte aller Fälle dienstags verhandelt. Von einem regelmäßigen Sitzungstag kann allerdings nicht gesprochen werden, denn häufig tagte das Gericht nur alle vierzehn Tage, in der zweiten Jahreshälfte verstärkt sogar im Abstand von drei und mehr Wochen. Gründe für diese Unregelmäßigkeit lassen sich nicht erkennen. Eine erhöhte Zahl vorgebrachter Fälle ist an solchen Sitzungstagen, die auf eine längere Sitzungspause folgten, nicht festzustellen. Eine klare Regelung für Ausweich­termine in Wochen ohne Dienstagssitzung scheint nicht bestanden zu haben, denn es lassen sich keine auffälligen Häufungen feststellen. Es kann aufgrund der hohen Zahl von Fällen, die an Dienstagen verhandelt wurden, davon ausgegangen werden, dass dieser Wochentag den Stadtbewohnern als der Hauptsitzungstag bekannt war. Inhaltliche Unterschiede zwischen den Klagen bzw. Verhandlungsgegenständen, die an einem Dienstag vorgebracht wurden, und solchen an anderen Tagen sind nicht erkennbar. Ebenso wenig lässt sich feststellen, dass die Anwesenheit einer größeren Zahl von Schöffen die Entscheidungen maßgeblich verändert hätte. Einzige Ausnahme war die bereits erwähnte Eidesleistung, die von den Parteien offenbar vor dem möglichst vollständig erschienen Stadtgericht abgelegt werden sollte.

Die Stadtgerichtsprotokolle geben keine Auskunft darüber, wie das Gericht zusammen trat, ob Sitzungen bei Bedarf einberufen wurden, wenn ein Kläger eine Sitzung des Gerichts beantragte. Wir wissen nicht, welche Fristen und andere formale Voraussetzungen erfüllt sein mussten. Denkbar wäre, dass eine Verhandlung dann anberaumt wurde, wenn einer der Beteiligten nicht aus Grebenstein oder der näheren Umgebung stammte und daher bei späteren Sitzungen unter Umständen nicht mehr verfügbar war. Zu untersuchen wäre neben der Herkunft der Parteien auch, ob bei Gerichtssitzungen, die sich lediglich mit einem oder zwei Fällen befassten und bei denen nicht alle Schöffen anwesend waren, Muster bezüglich der sozialen Herkunft des Klägers oder des Beklagten erkennbar sind. Es ist denkbar, dass das Gericht die Klage eines Ratsmitgliedes schneller zur Verhandlung brachte als die eines Tagelöhners. Dies lässt sich jedoch anhand der Stadtgerichtsprotokolle allein nicht feststellen, da sich nur selten ausreichend Hinweise auf die Person von Kläger und Beklagtem finden lassen, um diese eindeutig innerhalb der städtischen Gesellschaft verorten zu können. Die soziale Einordnung von Klägern und Beklagten und die Analyse der Beziehungen zwischen ihnen und weiteren Personen (darunter vor allem die Amtsträger) wird eine zentrale Aufgabe der weiteren Forschungsarbeit bilden.

Auch wenn es sich um das Protokoll des Gerichts handelt, nahmen Verwaltungs­sachen einen bedeutenden Teil der darin dokumentierten Tätigkeiten ein. Mehr als ein Drittel der Protokoll­einträge betraf administrative Angelegenheiten. Das Stadtgericht war für den einzelnen Bürger die naheliegende Instanz, um Bitten und Beschwerden vorzubringen. Auch die Gemeinde, vertreten durch den sogenannten Gemeinsbürgermeister, nutzte diese Möglich­keit, um dem Magistrat Anliegen vorzutragen. Verhandelt wurden beispielsweise Personal­angelegenheiten und Anträge einzelner Bürger auf Zuweisung von Bauholz oder Minderung von Abgaben. Ob bei diesen Verwaltungsfragen die Schöffen – wie in den Rechtsfällen – mitbestimmen durften, oder ob sie lediglich in beratender Funktion tätig wurden, lässt sich anhand der Protokolle nicht feststellen. Die häufig verwendete Formel „Es wardt der anwesenden Herren Bescheidt“ ist hierbei keine Hilfe, da sowohl die herrschaft­lichen Beamten wie die Mitglieder des Magistrats als „die Herren“ tituliert wurden.

Die eigentlichen Prozesse, also die gerichtliche Klärung von Streitigkeiten, machten fast zwei Drittel aller Verhandlungsgegenstände aus. Zivilrechtliche Konflikte, vor allem Schuld- und Erbschaftssachen, bildeten den Löwenanteil. In allen Erbschaftsangelegenheiten, die sich häufig über mehrere Sitzungstage erstreckten, ist eine deutlich größere Bereitschaft zu erkennen, sich mit der Gegenpartei gütlich zu einigen, als bei der Eintreibung von Schulden. Dies gilt insbesondere dann, wenn das Verwandtschaftsverhältnis zur verstorbenen Person kein direktes war. In Erbschaftssachen nahm das Gericht zumeist eine vermittelnde Haltung ein. Es vermied Bescheide, wie sie von den Klägern oftmals gefordert wurden. Ein Vergleich war die häufigste Form der Beendigung eines solchen Streits. Demgegenüber endeten Klagen wegen Nichtrückzahlung eines Kredites oder der Zinsen aus einem Kredit prozentual sehr viel häufiger mit einem Urteil im Sinne des Klägers. Obwohl sich Erbschafts- wie Schuldsachen häufig über mehrere Sitzungen erstreckten, waren die einzelnen Fälle in der Regel nicht sehr umfangreich: Es wurden meist nur wenige Zeugen benannt, deren Aussagen sich dann ausnahmslos mit denen der benennenden Partei deckten. In Verfahren dieser Art kam es daher so gut wie nie vor, dass die Verhandlung neue Aspekte oder Argumente erbrachte. Für Verzögerungen des Verfahrens sorgten fast immer die Parteien selber, die um eine Vertagung baten, damit sie die von der Gegenseite vorgebrachten Argumente prüfen konnten.

Anders stellte sich die Situation bei Klagen wegen Beleidigung oder Körperverletzung dar. Für die häufig geäußerte Ansicht, eine gewalttätige Volkskultur sei typisch für frühneu­zeitliche Stadtgesellschaften, finden sich in den Akten des Grebensteiner Stadtgerichtes im ausgehenden 17. Jahrhundert nur bedingt Belege. Lediglich rund ein Zehntel der Fälle, die verhandelt wurden, betraf Verbal- oder Realinjurien. Es steht noch zu untersuchen, ob Konflikte dieser Art in den Stadtgerichtsprotokollen unmittelbar nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges häufiger zu finden sind. Es wäre durchaus möglich, dass zu dieser Zeit noch eine ‚Kultur der Gewalt’ herrschte, angesichts der bis 1647 anhaltenden Kriegs­handlungen im nördlichen Hessen, verbunden mit geradezu ubiquitärer Gewaltsamkeit. Die im Jahr 1682 verhandelten Fälle von Beleidigung oder Körperverletzung nehmen in den Protokollen einen ungleich größeren Raum ein als die sehr viel häufigeren Schuldklagen. Dies rührt vor allem daher, dass Kläger und Beklagte in solchen Fällen eine große Zahl von Zeugen benannten. Anders als bei Schuldsachen konnte sich die Prozesspartei, die einen Zeugen benannte, nicht darauf verlassen, dass dessen Aussage mit der eigenen überein­stimmte. Wie in allen anderen Prozessen legten die Zeugen vor ihrer Aussage ein Hand­gelöbnis ab. Es ist kaum davon auszugehen, dass eine Falschaussage in einem Prozess wegen Körperverletzung schwerer wog als bei einer Kreditsache.

Die Bewertung der Taten durch das Gericht ist eindeutig: Sieht man von einem Fall ab, entschied das Gericht in Fällen von Körper­verletzung zugunsten des Klägers. Nie unternahm das Stadtgericht den Versuch, einen Vergleich zwischen den Parteien zu erzielen. In der Regel wurden Geld-, seltener auch Gefängnisstrafen verhängt. Eine Magd wurde wegen tätlichen Angriffs auf ihre Dienstherrin mit einer Gefängnisstrafe und anschließendem Stadtverweis bestraft. Genauso deutlich fällt die Auswertung der Beleidigungsklagen aus. Mit Ausnahme eines Falles wurden alle Beklagten zu Gefängnis- oder Geldstrafen verurteilt. Die Geldstrafen sind sowohl bei Real- als auch bei Verbalinjurien nicht als Schmerzensgeld an den Geschädigten zu verstehen, sondern als Strafe für die Störung der öffentlichen Ordnung. Folgerichtig waren sie nicht an die gegnerische Partei zu entrichten, sondern an die Stadt bzw. die herrschaftlichen Beamten.

Die Analyse der Praxis des Grebensteiner Stadtgericht in den Jahren 1731 bis 1733 ergibt ein in manchen Hinsichten verändertes Bild. Weiterhin war das Stadtgericht für die Bürger der Stadt Grebenstein zuständig (die Bewohner der umliegenden Dörfer unterstanden dem Amts­gericht). Es handelte sich allerdings nicht länger um ein von Bürgermeister und Ratsherren selbständig gehaltenes Gericht, vielmehr hatte der Amtschultheiß die Funktion des Richters inne, lediglich flankiert vom Bürgermeister und den Ratsherren. Verwaltungs­angelegen­heiten hatte man völlig aus dem Gericht verbannt; sie wurden nunmehr während gesonderter Sitzungen des Stadtrats verhandelt, an denen der Amtschultheiß nicht länger teil­nahm.

Von Seiten der Landesherrschaft wurden in diesem Zeitraum besondere Anstrengungen unter­nommen, um die institutionelle Verankerung der lokalen Gerichte zu forcieren. So wurde zu Beginn des Jahres 1732 eine Gerichtsordnung (HLO IV, 129) erlassen, die die Untergerichte als unumgehbare erste Instanz stärkte und direkte Klagen vor den höheren Gerichten nach­drücklich untersagte. Für die Untergerichte selbst schrieb die Ordnung das Verfahren und die Akten-Registratur detailliert vor. Intendiert war offenbar eine Stärkung, ‚Rationalisierung’, größere Effektivität sowie Kontrolle und Verein­heitlichung der lokalen Gerichtsbarkeit. Wenige Wochen vor der Untergerichtsordnung war außerdem eine Verordnung über die Form und Gültigkeit von Kauf-, Tausch- und Schenkungsurkunden, Schuld- und Pfandver­schreibungen und Bürgschaften erlassen worden (HLO IV, 84). Danach erhielten die Untergerichte das Monopol auf die rechtsgültige Beurkundungen von Immobiliengeschäften. Verträge, die nicht durch ein Untergericht aufgesetzt und besiegelt waren, hatten keine Gültigkeit, auch wenn sie durch Zeugen bestätigt wurden. Auch Schuld- und Pfandver­schreibungen sowie Bürgschaften erhielten ihre Rechts­gültigkeit allein durch die Protokollierung beim Untergericht, ansonsten sollten sie nicht einklagbar sein und bei Konkursen zurückgestellt werden. Ausdrücklich ging es hierbei um die Kontrolle solcher Geschäfte zur Herstellung von Rechtssicherheit und zur Wahrung fiskalischer Interessen.

Im Hinblick auf die Protokollierung bildete die Umsetzung dieser Normen offenbar einen entscheidenden Einschnitt in der Praxis des Grebensteiner Stadtgerichts. Die Untergerichts­ordnung setzte fest, dass nicht, wie bisher in Grebenstein üblich, die Verhandlungen eines Gerichtstages nacheinander in ein Protokollbuch zu schreiben waren, sondern dass für die einzelnen Fälle jeweils eigene Akten anzulegen und unter den Namen der Kläger alphabetisch abzulegen waren. Darüber hinaus sollte ein Generalprotokoll über die ergangenen Urteile geführt werden. Davon unabhängig sollten weiterhin Protokolle über die ‚freiwillige Gerichts­barkeit’, d.h. über die Hypotheken, Testamente, Eheverträge etc. geführt werden, wobei die Ordnung hier offenbar von einer bestehenden Praxis ausging. Insbesondere die Protokol­lierung von Krediten, Hypotheken und Immobiliengeschäften sollte dabei ‚pro Einwohner’ geführt werden. In der Protokollpraxis des Stadtgerichts wirkte sich das dahingehend aus, dass ein spezielles Protokoll über Immobilien­geschäfte und Hypotheken jetzt erst eingerichtet wurde (während das Amtsgericht ein solches schon länger führte), allerding gerade nicht nach Einwohnern, sondern noch immer nach Datum geführt. Dafür musste ein zusätzliches Generalprotokoll eingerichtet werden. Einzelne Streitfälle wurden tatsächlich in Einzelakten ‚auslagert’. Trotzdem wurde das bisherige Protokoll weitergeführt, z.T. nach Sitzungstagen protokolliert, z.T. aber auch nach Einzelfällen. Insgesamt vermittelt die Protokollführung ab 1732 – entgegen der Intention der Untergerichtsordnung – einen eher chaotischen Eindruck. Der Umfang der Stadtgerichtsprotokolle war allerdings gegenüber dem 17. Jahrhundert beträchtlich gewachsen: Die meisten Protokollbände des 18. Jahr­hunderts umfassen nur etwa ein Jahr und haben dennoch einen Umfang von 800-1000 Seiten (1731/32 etwa 12 bis 20 einzelne Verhandlungen pro wöchentlichem Gerichtstag).

Die landesherrliche lokale Justiz in Zivilsachen und in den administrativen Funktionen der sogenannten ‚freiwilligen Gerichtsbarkeit’ war gewissermaßen auf die Akzeptanz durch die Bevölkerung angewiesen, denn sie wurde nicht ex officio tätig, sondern aufgrund vorgebrachter Klagen oder angezeigter Sachverhalte. Recht und Justiz mussten demnach den Untertanen als Konfliktregelungsmöglichkeiten präsent sein und akzeptabel erscheinen, um zu funktionieren. Blickt man davon ausgehend auf die innerhalb der Stichprobe ermittelten Beteiligten und die verhandelten Gegenstände, lässt sich folgendes feststellen: Auf Seiten der Kläger finden sich zu einem erheblichen Teil die landesherrlichen und kommunalen Amtsträger. Kämmerer, Kontributionsrezeptor, Hospitalsprovisor klagten etwa ‚von Amts wegen’ Zahlungs­forderungen ein. Aber auch die Privatklagen kamen häufig aus den Reihen der Amtsträger: So klagten vor dem Stadtgericht der Amtschultheiß selbst ebenso wie der Schulrektor auch als Privatpersonen, darüber hinaus traten mehrere Ratsherren – zwei von ihnen besonders häufig – als private Kläger auf. Auf Seiten der Beklagten finden sich Amtsträger wesentlich seltener. Andererseits sind unter den Beklagten sehr viele, die nicht selbst als Kläger auftreten. Angesichts der kurzen zeit­lichen Erstreckung der Stichprobe muss das keine valide Aussage sein, aber es könnte sich durchaus um ‚justizferne’ Gruppen handeln, die von sich aus (als Kläger) eher nicht vor Gericht zogen. Allerdings nutzten nicht nur Amtsträger das Stadtgericht, eine große Zahl von Klagen stammte von Grebensteiner Bürgerinnen und Bürgern, die in keiner amtlichen Funktion standen. Über deren soziale Verortung lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Aussage treffen.

Die Gerichtstermine waren massiv von der Verhandlung streitiger Schuldsachen geprägt. Knapp die Hälfte der 1731/32 verhandelten Fälle betraf die Rückzahlung von Krediten, rückständige Zinsen, rückständige Steuerforderungen, nicht gezahlten Arbeitslohn, nicht gezahlte Kaufsummen usw. sowie Tätlichkeiten und Injurien, die sich auf streitige Schuld­sachen bezogen. In direktem Zusammenhang damit standen auch administrative Akte wie die Ausstellung von Urkunden über den Verkauf von Immobilien zur Bezahlung von Schulden oder die Verhängung von Strafen wegen Widerstands gegen Pfändung. (Die übrigen verhandelten Fälle betrafen zumeist Feldschäden und Verbal- oder Realinjurien sowie kleinere Diebstähle.) Berücksichtigt man darüber hinaus die außerhalb der eigentlichen Stadtgerichtsprotokolle, in den sogenannten Pfand- und Wehrschaftsbüchern, protokollierten Hypotheken und Pfandverschreibungen, wird erkennbar, dass das Stadtgericht offensichtlich eine wichtige Rolle innerhalb des lokalen Kreditsystems spielte.

Bisherige Forschungen haben gezeigt, dass Kredite unterschiedlichster Art und Form in der Frühen Neuzeit allgegenwärtig waren. Die alltäglichen Geschäfte mussten ebenso wie größere Investitionen unter den Bedingungen eines strukturellen Bargeldmangels und ohne die Möglichkeit von Bankkrediten bewältigt werden. Ein großer Teil der Transaktionen ging daher bargeldlos vonstatten, etwa durch Anschreiben beim Kaufmann oder durch Stundung von Lohn. Regelrechte Ketten von gegenseitigen Schuldverschreibungen existierten, die wechselseitig aufgelaufenen Schulden konnten zu bestimmten Zeitpunkten gegeneinander oder unter mehreren Parteien aufgerechnet werden. Kredit funktionierte offenbar als ein ‚multilaterales’ System von Verpflichtungen, das auf dem Vertrauen in die Kreditwürdigkeit der Beteiligten gründete, welche wiederum sozial hergestellt bzw. zugewiesen wurde. Die Analyse der Protokolle, Pfand- und Wehrschaftsbücher des Stadtgerichts ermöglicht es, die Einbindung der lokalen Amtsträger – landesherrliche wie kommunale – in diese Kreditnetz­werke zu untersuchen und festzustellen, welche Rolle ihnen für deren Herstellung und Stabilisierung zukam, welchen Einfluß die institutionelle Kontrolle hatte bzw. wie die Institutionen lokaler Herrschaft von den Beteiligten zur Herstellung von Öffentlichkeit, zur Kontrolle und zur Interessendurchsetzung genutzt wurden. Die Stichprobenuntersuchung zeigt bestimmte Konstellationen auf, die dies ansatzweise erkennen lassen.

Wie bereits erwähnt, handelte es sich bei den vor dem Stadtgericht verhandelten Klagen bzw. Rechtsakten zum größten Teil um Schuldsachen oder damit in Zusammenhang stehende Gegenstände. Dabei hatten viele Klagen eine lange, teils gerichtliche, teils außer­gerichtliche Vorgeschichte: So klagten Gläubiger häufig erst lange nach Fälligwerden von verliehenem Kapital oder Zinsen ihre Forderungen ein. Man kann davon ausgehen, dass in diesem Fall der Klage außergerichtliche Verhandlungen voran gegangen waren. Auch die Erteilung eines Urteils im Sinne des Gläubigers war nicht das Ende der Verhandlungen, weil nicht immer auch die Vollstreckung betrieben wurde. Vielmehr wurde in einigen Fällen immer wieder neu geklagt, Vereinbarungen und Vergleiche getroffen, manchmal über Jahre hinweg. Die Klage diente offenbar nicht unbedingt der unmittelbaren Durchsetzung von Zahlungsforderungen, sondern zwang den Schuldner mit obrigkeitlicher Autorität zum Verhandeln über die ausgebliebene Rückzahlung. Die Autorität von Obrigkeit und Gericht machten sich die Grebensteiner aber auch außer­gerichtlich zunutze. So trat etwa der Amtschultheiß als Kreditbürge auf, wenn auch nicht allzu häufig. Stadtdiener und Stadtschreiber wurden offenbar als Vermittler eingesetzt: Im Zusammenhang mit gericht­lichen Auseinander­setzungen um Schulden scheinen sie außergerichtlich Vergleichsangebote überbracht zu haben. Möglicherweise bedienten sich hier die Parteien der amtlichen Autorität, um ihrem Vergleichsangebot einen gerichtlichen ‚Anstrich’ zu geben und ihm so größeren Nachdruck zu verleihen.

Eine besondere Rolle als Kläger wie als Beklagter spielte der Ratsherr Christoph von Lahr. Er klagte auffallend häufig, wurde aber fast ebenso häufig selbst beklagt. Lahr trat dabei als Gläubiger, aber auch als Schuldner in Erscheinung, bei Injurien war er teils ‚Täter’, teils ‚Opfer’, teils Denunziant oder Zeuge. Bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass Lahr bei all diesen Fällen im Zentrum komplexer Kreditgeschäfte stand. So kaufte er Häuser auf oder pachtete Land von hochverschuldeten Bürgern, verkaufte weiter und stundete dem Käufer den Kaufpreis gegen Verzinsung. Er übernahm als Bürge fremde Schulden und tauchte als Vermittler in einer außergerichtlichen Kreditauseinandersetzung auf – die Vermittlung schlug hier allerdings fehl und endete in Handgreiflichkeiten. Die Verbindung von Ratsherrenamt und Kreditvermittlung wird bei einer Klage Lahrs wegen Beleidigung und tätlichem Angriff deutlich. Beklagter war hier ein ehemaliger Zehntsammler, den Lahr seines Amtes enthoben hatte. Die Amtsenthebung verband der Beklagte mit dem Vorwurf, Lahr sei schuld daran, dass er sein Haus verlöre. Dieser hatte dem Zehntsammler anscheinend zugesagt, als sein Fürsprecher bei einem Kasseler Gläubiger aufzutreten, diese Zusage aber nicht eingehalten. Der Beklagte hatte daraufhin erfolglos versucht, einen anderen Bürgen zu finden. In diesem wie in anderen Fällen, in denen Lahr an Injurien und Tätlichkeiten in der einen oder anderen Weise beteiligt war, entsteht der Eindruck, dass er sich auf der Basis seines Ratsherrenamtes und seiner prominenten Position als Kreditvermittler, Bürge und Gläubiger in der städtischen Gemeinschaft ausgesprochen exponierte, indem er z.B. aggressiv Respekt einforderte oder immer wieder Injurien und Tätlichkeiten denunzierte. Die Betroffenen suchten sich dem zumeist durch Nichterscheinen vor Gericht (der abgesetzte Zehntsammler nahm hierfür sogar mehrfache Gefängnisstrafen in Kauf) oder durch beharrliches Abstreiten zu entziehen (auch die Zeugen, die Lahr benannte, leugneten oft).

Neben dem Ratsherrn Christoph von Lahr trat vor allem der Chirurg Leopold Weidemann als Gläubiger und Kreditvermittler mit Verbindungen nach Kassel auf. So wandte sich der ehemalige Zehntsammler an Weidemann, nachdem Lahr ihm seine Fürsprache in Kassel verweigert hatte. Ebenso trat Weidemann in dem oben erwähnten, in Handgreiflichkeiten endenden außergerichtlichen Vergleichsversuch als Vermittler auf. Wie Lahr war Weidemann in Tätlichkeiten verwickelt: So wurde der Amtschultheiß von einem Fremden ‚aus dem Bett geklingelt’, der sich über eine Tätlichkeit Weidemanns beschweren wollte. Dieser war eben­falls ins Haus des Schultheißen gekommen und versetzte dem Fremden daraufhin vor den Augen des Beamten eine Ohrfeige. Es entsteht der Eindruck, dass Weidemann eher zu Selbst­hilfe griff, er gehörte außerdem zu den sehr wenigen Grebensteiner Bürgern, die gegen einen Bescheid des Stadtgerichts nach Kassel appellierten.

Das Verhalten Christoph von Lahrs und Leopold Weidemanns gegenüber dem Stadtgericht wirft Fragen zu dessen Akzeptanz auf. Der Ratsherr Lahr nahm gern und oft das Stadtgericht als Kläger in Anspruch. Er denunzierte auch Konflikte, die die Beteiligten anscheinend lieber in der Stadtschenke als vor dem Stadtgericht geklärt hätten. Offenbar setzte er zur Klärung von Konflikten regelmäßig auf das Stadtgericht, wobei er als Beklagter allerdings häufig fernblieb, weswegen ihm verschiedentlich mit Strafe gedroht wurde. Weidemann, seinerseits kein Amtsträger, sondern ein von außerhalb kommender Honoratiore, schritt in Auseinander­setzungen offenbar selbst zur Tat. Mit einem Urteil des Stadtgerichts mochte er sich nicht bescheiden. Ein anderer Grebensteiner Bürger gab dezidiert zu Protokoll, er betreibe die Appellation, weil er an das Stadtgericht „keinen Glauben“ habe. Wie gesehen waren es abgesehen von den Amtsträgern, die aufgrund ihres Amtes klagten, zum großen Teil die Ratsherren, die das Stadtgericht für Privatklagen nutzen. Tatsächlich entsteht über weite Strecken des Protokolls der Eindruck, als ob das Stadtgericht vor allem als Institution zur Durchsetzung städtischer und landesherrlicher Zahlungsforderungen und privater Interessen einiger Ratsherren fungierte. Andererseits verweist die pure Zahl der verhandelten Klagen darauf, dass auch andere Grebensteiner das ‚Angebot’ einer Konfliktregelung vor dem Stadt­gericht in Anspruch nahmen. Appellationen an die Regierung in Kassel als zweite Instanz waren eher selten.

Der Amtsschultheiß trat in der Stichprobenauswertung als Kreditbürge oder Zeuge einer Schuldverschreibung nur selten, als Gläubiger oder Schuldner gar nicht in Erscheinung. In seine amtliche Funktion als Richter des Stadtgerichts setzten aber mindestens bestimmte Gruppen der Grebensteiner Bevölkerung offenbar einiges Vertrauen. Mit dem Erlass der Verordnung über Kaufbriefe und Schuldverschreibungen von 1732 erhielt er außerdem weitgehende Kontrollbefugnisse auch über Form und Inhalt solcher Verträge, er sollte sie erstellen und protokollieren. Die Kompetenz ‚schrift­kundiger’ Einwohner (Schulrektor, Pfarrer usw.) zur Fixierung von Rechtsgeschäften wurde auf diese Weise juristisch ebenso unmaßgeblich wie die Aussagen von Zeugen. Ob dies in der Praxis der Kreditnetzwerke zu einer Art ‚Funktionsentlastung’ sozialer Beziehungen führte und die Position von Personen wie Christoph von Lahr oder Leopold Weidemann gegenüber dem landesherrlichen Amtsträger schwächte, bleibt zu untersuchen.

Die Schwelle zur Erhebung einer Schuldklage vor dem Stadtgericht war offenbar niedrig: Das Gericht war am Ort, die Klageerhebung erforderte keine spezifische juristische Form (etwa nach dem römischrechtlichen Aktionenschema), die Verhandlung erfolgte in aller regel mündlich. Möglicherweise wirkte auch das ‚kommunale Element’, d.h. die Anwesenheit der Ratsherren neben dem landesherrlichen Beamten, in diese Richtung. Zum anderen war die Zufriedenheit mit den Urteilen des Stadtgerichts hoch, auf ihrer Grundlage konnte man anschließend weiter verhandeln. Das Stadtgericht scheint also in der Lage gewesen zu sein, Spannungen und Konflikte auszugleichen oder zu de-eskalieren, jedenfalls scheint ihm entsprechende Autorität von Teilen der Grebensteiner Bevölkerung zugeschrieben worden zu sein. Diese Autorität kam aber nicht allein dem Gericht als Institution zu, sondern auch den Amtsträgern bis hin zum Gerichtsdiener. Hierin könnte ein Unterschied zum ebenfalls in Grebenstein tagenden Amts­gericht liegen, das vom Amtschultheißen allein, ohne gemeind­liche Beteiligung, abgehalten wurde und daher größere räumliche und soziale Distanz zur Lebenswelt seiner dörflichen ‚Klienten’ hatte.

Eine besondere Rolle scheint der Rentmeister gespielt zu haben: Nur selten wird er im Protokoll ausdrücklich genannt, auch als Kläger trat er kaum in Erscheinung, ließ sich als Geschädigter sogar von einem Mitgeschädigten vertreten. Auch die Rentschreiber hielten Abstand vom Stadtgericht: Der Rentschreiber Jatho gab eine Anfrage an das Stadtgericht schriftlich ein, der Rentschreiber Lahrmann fühlte sich als Beklagter nicht verpflichtet, vor dem Stadtgericht zu erscheinen, obwohl anscheinend in Kassel die Entscheidung ergangen war, dass das Stadtgericht durchaus das zuständige Gericht sei. Eine Auseinandersetzung zwischen Stadtschreiber und Bürgermeister um einen vom Rentmeister im Rahmen eines Stadtgerichtsfalls erbetenen Befehl erweckt den Eindruck, dass der Rentmeister aus Angelegenheiten des Stadtgerichts herausgehalten werden sollte, um kein ‚Präjudiz’ zu schaffen. Insgesamt scheint es eine erhebliche Distanz zwischen Rentmeister bzw. Renterei-Bediensteten und dem Stadtgericht zu geben. Auch als Vermittler, Schiedsrichter, Zeuge von Kreditgeschäften o.ä. trat der Rentmeister nicht in Erscheinung, im Gegensatz zum Schult­heißen. Den Kontakt zur Bevölkerung und zu den lokalen Honoratioren pflegte wohl vor allem der Amtschultheiß. Diese Befunde deuten in Richtung einer funktionalen Aufgaben­teilung der landesherrlichen Beamten, die auch ein unterschiedliches Amts- und Selbst­verständnis bedingen.

Die Rechtsprechung des Stadtgerichts Grebenstein war demnach – trotz wachsender formaler Ansprüche – vergleichsweise unkompliziert, wozu die mündliche Verhandlungsführung nicht wenig beitrug. Die Interessen des Landesherren stimmten – gerade im Bereich der Ziviljustiz – mit den Interessen zumindest bestimmter Teile der Grebensteiner Bevölkerung überein. Es steht zu vermuten, dass diese Handhabung der Justiz nicht unwesentlich zum Glauben an die Legitimität des fürstlichen Regiments beigetragen hat, vor allem unter den Privilegierten.

e) Schriftlichkeit und Mündlichkeit

Im Untersuchungszeitraum lässt sich eine deutliche Ausweitung der Verschriftlichung des Rechts- und Verwaltungshandelns in der Landgrafschaft Hessen-Kassel beobachten. Man muss dabei selbstverständlich den möglichen Verlust von ganzen Aktenbeständen ins Kalkül ziehen; so sind beispielsweise für das 17. Jahrhundert nur noch Fragmente der fraglos vorhanden gewesenen Amts­rechnungen erhalten. Gleichwohl haben auch kassierte oder zufällig verloren gegangene Quellenbestände Spuren in der erhaltenen Überlieferung hinter­lassen.

Aufgrund der bisherigen Quellenauswertung und der Analyse von Findbüchern verdichtet sich der Eindruck eines Umbruchs in den ersten drei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts. Zwar ereignete sich ein entscheidender Verschriftlichungsschub bei der Aktenführung der Renterei­beamten bereits im 16. Jahrhundert. So blieb das Formular der Amts­rechnungen von 1580 bis 1807 praktisch unverändert in Geltung. Durchforstet man die Kammerregistratur jedoch im Detail, so ist unverkennbar, dass die Rentmeister seit dem frühen 18. Jahrhundert gehalten waren, immer weitere Teile ihres alltäglichen Handelns schriftlich zu dokumen­tieren. Seither gingen sie von der Führung von Protokollen über zur Anlegung von Einzel­akten nach Sach­gesichts­punkten.

Auch die Protokoll- und Registerführung vor der Regierungskanzlei in Kassel unterlag einem deutlichem Wandel. Die Regierungskanzlei stand als Appellationsinstanz im 16. und frühen 17. Jahrhundert in Konkurrenz mit dem Hofgericht in Marburg. Die Untersuchung der Protokolle hat ergeben, dass Kläger aus Niederhessen der nahen Kanzlei in Kassel gegenüber dem ferneren Hofgericht in Marburg den Vorzug gaben. Wie an den Obergerichten der Reichsterritorien allgemein üblich schrieben die hessischen Kanzlei­ordnungen seit dem 16. Jahrhundert den schriftlichen Artikelprozess nach Vorbild der Reichs­gerichte vor (Kanzlei­ordnung von 1581 (HLO I, 438), erneuert 1613 (HLO III, 713), 1628 (HLO II, 9), 1656 (HLO II, 275) und 1713 (HLO III, 709)). Einzige Ausnahme hiervon bildete seit der summarischen Gerichtsordnung von 1737 das Güteverfahren, in das Elemente des rascheren mündlichen Verfahrens vor den Niedergerichten übernommen und auf Bagatellsachen (bis zum Streitwert von 20 Rt.) übertragen wurden.

Im Jahre 1656 hatte die Landgrafschaft das privilegium de non appellando für alle Fälle mit einem Streitwert unter 1000 Goldgulden erworben. Als Oberappellationsgericht fungierte die Regierungskanzlei in Kassel für Appellationen aus Oberhessen und Schaumburg; aus Nieder­hessen kommende Verfahren wurden von einer Kommission letztinstanzlich entschieden, die sich aus denjenigen deputierten Räten der Kassler Regierung zusammen­setzte, die nicht an der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hatten. Größere Klarheit schaffte die OAG-Ordnung von 1730 (HLO IV, 29), die ein dauerhaftes Oberappellations­gericht schuf. Mit dem Erwerb des privilegium de non appellando illimitatum im Jahre 1742 wurde der Erlass einer neuen OAG-Ordnung erforderlich, die 1746 erging (HLO IV, 992; NSLO II, 357). Auch im Falle der Obergerichte erweist sich, dass sich entscheidende Veränderungen in den ersten vier Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zutrugen, als es nicht nur zur Ausgliederung des Ober­appellations­gerichts, sondern auch zur internen Ausdifferenzierung eines Justiz- und eines Verwaltungs­senats kam.

Das Jahr 1732 markiert einen Einschnitt in der Form der Schriftlichkeit lokaler Gerichts­barkeit in Hessen-Kassel. Zuvor waren die Grebensteiner Stadtgerichtsprotokolle einzig chronologisch geordnet, was ein Wiederauffinden von Klagen, Sachverhalten, Urteilen und sonstigen Bescheiden erschwerte. Dies gilt um so mehr angesichts der Fülle der behandelten Materien: Wahlen und Verwaltungsangelegenheiten, Bestallung und Disziplinierung von städtischem Personal, Beschwerden der Gemeinde, Klagen und Beschwerden von einzelnen Bürgern, Schuldklagen und Erbschaftsstreitigkeiten. Solche Erbschaftssachen wurden aller­dings nur in streitigen Fällen verhandelt, die Hinterlegung von Testamenten war unüblich.

Wie oben bereits ausgeführt wurden von Seiten der Landesherrschaft 1732 energische Anstrengungen unternommen, um die lokalen Gerichte dem usus an den Obergerichten anzupassen. Zu diesem Zweck ergingen detaillierte Vorschriften über die Art und Weise der Verschriftlichung justizieller und administrativer Handlungen. Seit dem Regierungsantritt von Landgraf Friedrich I. im Jahre 1730 waren immer wieder von verschiedenen Regierungs­institutionen Anordnungen erlassen worden, die die ordnungs- und formulargemäße Abfassung offizieller Schriftstücke durch lokale Amtsträger oder streitende Parteien (bzw. deren Anwälte) regelte bzw. anmahnte. Mit den Ordnungen von 1732 bemühte sich die Landes­herrschaft auch darum, die Aktenführung der Untergerichte systematisch zu strukturieren. Im Bereich der Justiz sollten die chronologischen Protokolle durch Einzelakten einerseits und reine Urteilsprotokolle andererseits abgelöst werden. Auf diese Weise sollte eine bessere Auffindbarkeit gewährleistet werden.

Im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit wurden die ‚Spezial-Protokolle’ über Eheverträge, Wehrschaften (Besitzeinsetzungen) und Testamente als bereits eingeführte Praxis erwähnt, nach der Kaufbriefverordnung sollten Immobiliengeschäfte, Kredite und Hypotheken nicht länger nach Datum, sondern „pro Einwohner“ dokumentiert werden, d.h. die Belastungen eines jeden Haushalts würden auf diese Weise überprüfbar. Diese Form der Schriftlichkeit sollte Rechtssicherheit herstellen und fiskalische Interessen wahren. Darüber hinaus trennten die Untergerichtsordnung und die Kaufbriefverordnung justizielle und administrative Funktionen, und zwar nicht institutionell oder personell, sondern auf der Basis der Akten­führung, durch Unterscheidung von Einzelakten und Protokollbüchern (Justiz hauptsächlich in Einzelakten, administrative Funktionen in Form von Protokollen).

In den erwähnten Ordnungen wurde Schriftlichkeit unterschiedlich bewertet: Schriftlichkeit auf Seiten der Amtsträger diente demzufolge der Transparenz, Kontrollierbarkeit, Berechen­barkeit bzw. Beweisbarkeit, Eindeutigkeit, Rechtsgültigkeit und Rechtssicherheit. Schriftlich­keit auf Seiten der Parteien/Anwälte führte angeblich zu juristischen Weitläufigkeiten, nicht zur Sache gehörenden Dingen, Ausflüchten, Zweifeln, weiteren Prozessen, unklarer Beweis­lage und  Ungültigkeit durch Formfehler. Schriftliches von anderen als den Amtspersonen sollte möglichst ausgeschaltet werden: Zu Beginn eines Zivilprozesses sollten die Parteien ihre Argumente mündlich und ohne Anwalt vorbringen. Die Erstellung von Kaufbriefen und Verträgen durch Schulrektoren, Pfarrer usw. sollte völlig unterbunden werden.

Im selben Zeitraum wurde auch die Aktenführung der Appellationsinstanzen in Kassel neu geordnet. Im 17. Jahrhundert führte die Regierungskanzlei ein Protokoll, das über ein alphabetisches Namensregister erschließbar ist, sowie Urteilsbücher. Das im Zeitraum von 1730 bis 1746 entstehende Oberappellationsgericht verfügte dagegen über ein ausdifferen­ziertes Protokollwesen mit Hauptprotokoll und mehreren Spezialprotokollen (Extrajudicial-, Suppliken- und Distributionsprotokoll), in denen die Entscheidungen festgehalten wurden. Protokolle und Akten sind ohne Kenntnisse des Prozessrechts kaum zu verstehen, die Sprache ist stark formalisiert und knapp. Die eigentlichen Verhandlungen wurden in Einzelakten dokumentiert.

Offenbar sollten Unter- und Obergerichte ihre Aktenführung in ähnlicher Weise ‚moderni­sieren’. Jedenfalls setzte die Landesherrschaft in den 1730er Jahren ihre lokalen Amtsträger einem hohen ‚Schriftlichkeitsdruck’ aus: Nicht nur die Untergerichtsordnung und die Kaufbriefverordnung drangen auf veränderte und erweiterte Protokoll- und Aktenführung sowie auf formgerechte Erstellung von amtlichen Schriftstücken und Verträgen. Auch die Sportelordnung von 1732 (HLO IV, 143) schrieb den Beamten vor, Register über die eingenommenen Sporteln zu führen. Während die Appellationsinstanzen in Kassel, der Justizsenat der Regierung sowie das OAG die differenzierten Formen der Protokoll- und Aktenführung anscheinend rasch umsetzten, scheint das ‚vor Ort’ nicht ohne weiteres funktioniert zu haben.

Im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit ist die Überlieferung lückenhaft. Die Unter­gerichtsordnung von 1732 geht zwar von einer bereits eingeführten Praxis der Protokollierung von Eheverträgen aus, für Stadt und Amt Grebenstein ist ein solches Protokoll aber erst ab 1754 überliefert. Vielleicht sind vorhergehende Protokolle vernichtet worden. Schließlich handelt es sich hierbei um einen bedeutsamen Bereich des Vermögenstransfers (anlässlich von Ehe­schließung oder Tod eines Ehegatten), dessen Kontrolle durch die lokale Obrigkeit für die Landesherrschaft eigentlich interessant gewesen wäre.

Nichtstreitige Nachlassakten (Verlassenschaftsakten) sind erst ab den 1740er Jahren über­liefert, als Akten, nicht im Rahmen von Protokollen. Vormundschaftsakten, d.h. die obrig­keitliche Beaufsichtigung der Erbteilung im Interesse unmündiger Erben und die Rechnungs­legung des Vormundes, sind nicht überliefert. Zwar gehörte die Bestellung eines Vormunds und die jährliche Abhörung seiner Rechnung zu den Aufgaben der Beamten. Gleichwohl gibt es weder ein spezielles Protokoll noch einzelne Akten. Die Bestellung von Vormündern wird allerdings im Stadtgerichtsprotokoll notiert. Es gibt außerdem kein Protokoll über Testamente oder ihre Eröffnung. Somit hat ein erheblicher Teil des privaten Vermögens­transfers entweder überhaupt keinen schriftlichen Niederschlag gefunden oder ist zumindest amtlicherseits nicht verschriftlicht bzw. für aufbewahrenswert gehalten worden.

Auch die Untergerichtsordnung schreibt vor, dass Klagen vor den lokalen Gerichten mündlich vorgebracht wurden. Das räumte den Amtsträgern die Möglichkeit ein, den Fall durch gezielte Protokollierung zu strukturieren. Die Manipulation des Protokolls zugunsten einer Partei war mit hohen Strafen bewehrt. Aber auch ohne dass der Protokollant unmittelbar für eine Partei manipulierte, bedeutete die Protokollierung einer mündlichen Verhandlung, in Alltagssprache vorgebrachte Reden und sonstiges Verhalten der Parteien zu justiziablen Tatbeständen zu machen und das dafür nicht relevant Erscheinende wegzulassen (auch wenn es den Parteien durchaus relevant erschien). Auch die Untergerichtsordnung drängte darauf, nicht ‚zur Sache’ gehörende Reden zu unter­binden. Die Beamten als Träger der Schriftlichkeit hatten demnach die Möglichkeit zu definieren, was ‚zur Sache’ gehörte. So lange die Verhandlung mündlich stattfand, bestand jedoch die Gelegen­heit, nichtjustiziable Sachverhalte vor Gericht vorzu­bringen, um die eigenen Interessen durchzusetzen, auch wenn diese nicht protokolliert wurden. Eingereichte Schriftstücke folgten dagegen vor allem der Logik juristischer Argumentation und thematisierten kaum einmal nicht juristisch Verwertbares.

In stark formalisierter Weise wurden die Verhandlungen vom Stadtschreiber protokolliert, wahrscheinlich nach Diktat durch den Amtschult­heißen. Dabei wurden die Aussagen der Parteien zum Teil in indirekter Rede wiedergegeben, häufig aber auch in standardisierten Aussagesätzen, die justiziable Sachverhalte bezeichneten („bat um Hilfe“, „produzierte beiliegende Obligation“, „blieb zurück“). Auch vor den Appellationsinstanzen wurden die Verhandlungen mindestens zum Teil mündlich geführt. Dabei handelte es sich aber um eine ganz andere Art von Mündlichkeit, nämlich eine fachsprachliche Mündlichkeit, bei der die Sprache der Beteiligten mehrfach gefiltert wurde: Sie berichteten dem Rechtsvertreter, der stellte den Sachverhalt dem Gericht dar, das diesen wiederum verschrift­lichte. Die Protokoll der Regierungskanzlei und des OAG waren in viel stärkerem Maße als diejenigen des Untergerichts fachsprachlich.

Gegenüber den immer stärker formalisierten Rechtsgeschäften, die im beginnenden 18. Jahr­hundert auch an den Niedergerichten zunehmend der Regulierung und Normierung durch akademisch geschulte Juristen unterworfen wurden, blieben in Verwaltungssachen vergleichs­weise „freie“ Formen gestattet. Zwar waren die lokalen Amtsträger gehalten, sich strikt an die amtlichen Vorgaben zu halten (Registerführung, Vergabe von Aktenzeichen, Datierung, Titulaturen und Anreden, Formatierung, Form der Sachverhaltsschilderung etc.), der supplizierende Untertan konnte jedoch weiterhin auch auf recht ungelenke Eingaben eine Reaktion der Behörden erwarten – mit welchen Aussichten auf Erfolg, ist freilich eine offene Frage. Der sich abzeichnende Stil­wandel war jedenfalls nicht allein auf die normierenden Vorgaben der Obrigkeit zurück­zuführen, sondern resultierte ebenso aus allgemeinen kulturellen Prozessen. Diese Prozesse der Legitimierung und Delegitimierung von Sprechweisen, Sprachformen und Argumenta­tionen wird künftig besonders aufmerksam untersucht.

4. Internationaler Vergleich

In der Forschungsarbeit der einzelnen Regionalprojekte und in der gemeinsamen Diskussion hat sich – wie kaum anders zu erwarten – herausgestellt, dass allgemeine Aussagen zum Funktionieren lokaler Rechtsprechung und Verwaltung im Ancien Régime durch die Komplexität des Phänomens erschwert sind. Einfache Modelle, die das Wirken der herr­schaftlichen ‚Apparate’ in Kausalbeziehungen zur gesellschaftlichen Umwelt setzen, sind ungeeignet, die Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt zu erfassen und den historischen Wandel zu deuten.

Um die Stellung der lokalen Amtsträger zu beschreiben und ihr Handeln zu deuten, wird eine variable Matrix genutzt, mit folgenden Dimensionen: Die erste Dimension handelt von den Grund­lagen lokaler Macht. Das reicht von der Einbindung der lokalen Amtsträger in den Personenverband einer territorialen oder herrschaftlichen oder ständischen Verwaltung, über ihr Verhältnis zu konkurrierenden Machtträgern, bis zum Umgang mit den lokalen Korpora­tionen und Ortsobrigkeiten. Eine zweite Dimension umfasst das jeweilige Aufgabenregime, mit seinen spezifischen Normen und Verfahrens­weisen sowie den Anforderungen an die ‚Qualität’ des Amtshandelns. Hierzu gehören beispielsweise Art und Umfang der Schriftlich­keit sowie die Berücksichtigung von autochthonen und gelehrten Rechtstraditionen. Die dritte Dimension handelt von den kulturellen Bedingungen obrigkeitlichen Handelns, von den in einer Zeit ‚vorrätigen’ Sprachen und symbolischen Formen der Über- und Unterordnung sowie der Kooperation, damit auch von den ethischen Referenz­punkten legitimen Handelns. Diese drei Dimensionen sind unseres Erachtens geeignet, das institutionelle Arrangement zu charakterisieren, in dem der einzelne Amtsträger tätig wurde.

Das Modell sollte flexibel gehandhabt werden: Veränderungen in einer der Dimensionen wälzten nicht unbedingt das gesamte Koordinatensystem um. Autonomer Wandel ist demnach darin ebenso vorgesehen wie gleich­gerichtete Veränderungen in mehreren Dimensionen und antagonistische Prozesse. Angesichts der Vielfalt der untersuchten Bedingungen ist das gleich­zeitige Auftreten unter­schiedlicher Phänomene zu erwarten. Nur wenn diese Rahmen­bedingungen in die Analyse einbezogen werden, lässt sich die Frage nach dem Einfluss der sozialen Umwelt auf die lokale Rechtsprechung und Verwaltung einer Antwort näher bringen. Dieses Programm ist freilich nicht eingelöst; ein solcher Anspruch wäre nach nur einem Jahr Forschungs­arbeit auch unrealistisch. Gleichwohl lassen sich zu diesem Zeitpunkt bereits erste Aussagen zur lokalen Herrschaft in den böhmischen, ungarischen und deutschen Regionen treffen und einige Entwicklungstendenzen im 17. und 18. Jahr­hundert benennen.

a) Institutionell-politische Grundlagen lokaler Macht

Eine wichtige Differenz zwischen der Landgrafschaft Hessen-Kassel als einem Reichs­territorium mittlerer Größe und den unmittelbar unter der habsburgischen Krone stehenden böhmischen Landen und dem Königreich Ungarn bestand in der Frage der Souveränität. Als Reichsstände vermochten die Landgrafen seit dem Jüngsten Reichsabschied die Richtlinien ihrer Politik und die Normsetzung in Justiz und Policey weitgehend autonom zu bestimmen. Das äußerte sich in der für Reichsterritorien typischen ‚policeylichen’ Verordnungspraxis, die in Ungarn und Böhmen kein Gegenstück fand. Trotz weitreichender Macht hatten sich böhmische und ungarische Magnaten in höherem Maße den Anordnungen des Wiener Hofes anzupassen. Die Habsburger und ihre zentralen Behörden forderten bis Mitte des 18. Jahr­hunderts allerdings lediglich prinzipielle Loyalität ein, ohne in die Rechtsprechung und alltägliche Verwaltung durch Gesetze, Verordnungen und Erlasse unmittelbar einzugreifen. Erst während der Regentschaften von Maria Theresia und Joseph II. wurden ernsthafte Versuche unternommen, jeden einzelnen Untertanen in ein immediates Verhältnis zur Krone zu bringen. Formal-staatsrechtliche und militärische Aspekte einmal beiseite gestellt, befanden sich die Landgrafen von Hessen, die Herren von Neuhaus und die ungarischen Magnaten auf einem vergleichbaren Niveau der Autonomie.

Als Machtzentrum dominierte in der Herrschaft Neuhaus seit 1620 die herrschaftliche Kanzlei, wohingegen der habsburgischen Krone vor Ort kaum Bedeutung zukam, da sich die imperiale Macht im Königreich Böhmen so lange nicht ‚einmischte’, so lange die Loyalität der Bevölkerung zur Krone und zur katholischen Kirche außer Frage stand. Nach dem militärischen Sieg über die protestantischen Stände im Jahre 1620 hatte man nämlich den ‚treuen’ Magnaten, zu denen die Slawatas zweifelsohne zählten, nicht nur die Kontrolle ihrer Herrschaften und der dazu gehörenden Mediatstädte weitgehend überantwortet, auch die Kreise als regional-ständische Korporationen büßten ein Gutteil ihrer politischen und administrativen Bedeutung ein. Neuhaus zumal zählte zum Kerngebiet der Aristokratisierung: Hier bestand ein bedeutender Magnatenhof, an den sich die Angehörigen des regionalen Adels als Klienten bzw. Amtsträger banden. Aufgrund dieser ‚Mediatisierung’ der Ritter­schaft kamen die Kreise oder einzelne Ständevertreter als Ansprechpartner für die Untertanen nicht in Betracht.

In Ungarn stellen sich die Verhältnisse verwickelter dar. Das eine Extrem markieren die freien Städte, die – ähnlich wie deutsche Reichsstädte – weitgehende Autono­mie genossen. Hier bildeten die städtischen Räte die maßgebliche kommunale Obrig­keit für Bürger und Beisassen. Am anderen Ende der Skala befanden sich die Gutsherrschaf­ten, in denen die von der Herrschaft bestellten Verwalter zu Beginn des 18. Jahrhunderts zunächst noch schalten und walten konnten, ohne an schriftliche Normen gebunden zu sein. Allerdings kam es in der Friedenszeit nach 1711 zu einer raschen Anpassung an die zeitüblichen europäischen Standards, sei es, weil die Magnaten und der wohlhabendere Komitatsadel daran interessiert waren, die Rechtsprechung und vor allem die Rechnungsführung ihrer Verwalter zu kontrollieren, sei es, weil diese Amtsträger von sich aus den Ehrgeiz entwickelten, gemäß der kulturellen Normen (‚Zivilisation’) zu handeln. In Landgemeinden mit privilegierter Bevölke­rung (häufig Angehörige ethnischer Minoritäten) und in den Mediat­städten fanden sich herr­schaftlich-genossenschaftliche Kondominate. Wie oben ausgeführt kam den Komitaten wegen der Ferne zentraler Behörden und der Zahlenstärke des Adels eine besondere Bedeutung zu. Zu diesen Kreisständen hatten Angehörige des Komitatsadels in formal-egalitärer Weise Zugang, aufgrund ihrer hervorragenden Stellung vermochten allerdings Magnaten großen informellen Einfluss auszuüben. Für die Land- und Stadtbevölkerung bildeten die Komitate die maßgebliche Appellationsinstanz. 

In Hessen-Kassel waren die Stände seit 1650 weitgehend aus dem politischen, gerichtlichen und administrativen Tagesgeschäft verbannt. Zwar werden künftig auch die aus dem Amt Grebenstein stammenden Gravamen an die Ständeversammlung untersucht – es ist jedoch bereits gesichert, dass ihre Bedeutung vergleichsweise marginal war. Der Rekurs an die Reichsgerichte erfolgte aus der Landgrafschaft ebenfalls höchst selten, auch schon vor Erteilung des privilegium de non appellando illimitatum und der Errichtung eines gesonderten Oberappellationsgerichts in den Jahren 1742-1746. So kommt man zu der Einschätzung, dass in Hessen-Kassel die landes­herrlichen Behörden – Amt, Regierungskanzlei, Rentkammer – die wichtigsten lokalen und regionalen Machtzentren bildeten.

Lokale Herrschaft erfolgte in einem variablen Mehrecks­verhältnis zwischen verschiedenen zur Partizipation berechtigten Instanzen: Lokalobrigkeiten, herrschaftlichen Amtsträgern, regional-ständischen und imperialen Gewalten. Damit lässt sich ein Feld der möglichen Allianzen beschreiben, das unterschiedlich genutzt werden konnte. Vor Ort üblich waren selbstverständlich breite Zusammenschlüsse von sesshaften, wohl­habenden und mit politischen Teilhaberechten versehenen Gruppen mit den lokalen Amtsträgern im Interesse gesellschaftlicher Stabilität. Andere Konstellationen konnten sich jedoch angesichts spezifischer politischer, materieller, ideeller und konfessioneller Interessen­lagen ergeben.

Zwar könnte man argumentieren, dass sich auf jeweils vergleichbarem räumlichen Niveau mit den Herren von Neuhaus, den Fürsten Esterházy in Ödenburg, den Grafen Károlyi in Szatmár und den Landgrafen in Niederhessen eine monopolare Struktur an der Spitze des jeweiligen Untersuchungsgebietes findet. Das täuscht jedoch über wesentliche Unterschiede hinweg, denn die regionale Amtsträgerschaft bestand in Böhmen und Hessen aus Fürstendienern, die ihrem Herren unmittelbar unterstanden, während die Wahlbeamten der Komitate zwar keines­wegs offen gegen die Magnaten agierten, gleichwohl – gestützt auf die Standes­solidarität innerhalb des Komitatsadels – weitaus größere ‚Ellenbogenfreiheit’ hatten. Größere Ähnlich­keiten mit der Position eines hessischen Amtschultheißen oder Rentmeister wies hingegen die Stellung eines ungarischen Gutsverwalters auf. Das gilt in noch höherem Maße für die Magistrate der Mediatstädte: Die Mediatstadt Nagykároly war der Macht ihres Herren, den Grafen Károlyi, in ähnlicher Weise unterworfen wie Jindřichův Hradec den Herren von Neuhaus und Greben­stein den hessischen Landgrafen. Gleichwohl bestanden in allen drei Städten erhebliche Spielräume, wenn nicht für offen autonomes Handeln, so doch für das Agieren im Rahmen einer eingehegten, ‚beauftragten’ Selbstverwaltung.

b) Aufgabenregime

Untertanen und Herrschaften standen in allen drei Regionen vor der Herausforderung des Wiederaufbaus nach einem verheerenden Krieg. Diese Rekonstruktions­phase nahm jeweils mehrere Jahrzehnte in Anspruch. Für die Herrschaft Neuhaus und das Amt Greben­stein handelt es sich um die Periode nach dem Westfälischen Frieden – etwa zwischen 1648 und 1720/40 – während das Komitat Szatmár in den von 1657 bis 1711 dauernden Kriegen zwischen den kaiserlichen Heeren, den aufständischen Kuruzzen, den Siebenbürgern und den Türken von vergleich­baren Verwüstungen heimgesucht wurde wie Böhmen und Hessen im Dreißig­jährigen Krieg. Der Wiederaufbau begann im östlichen Teil Ungarns erst 1711 nach Beendigung des Kuruzzen-Kriegs im Frieden von Szatmár und erstreckte sich bis in das letzte Drittel des 18. Jahr­hunderts.

Während des Wiederaufbaus standen die Herrschaften vor dem Problem, einerseits Steuern, Abgaben und Dienste abschöpfen zu wollen, andererseits die Untertanen nicht über Gebühr zu strapazieren und ihre Leistungsfähigkeit dauerhaft zu schädigen. Von unmittelbaren Aufbau­hilfen war kaum die Rede, dazu fehlten die Mittel. In Hessen bildete die Erlaubnis zum Bezug von Bauholz aus den herrschaftlichen Forsten die einzige Ausnahme, ansonsten setzte man auf das eigenständige Handeln der Untertanen. Neuansiedler versuchte man anzulocken durch Gewährung von ‚Freijahren’, während derer sie mit Steuern, Abgaben und Diensten ‚verschont’ wurden. Darüber hinaus nahm in Ungarn und in Hessen die Ansiedlungspolitik zeitweise systematische Züge an, indem man bestimmten ethnischen und religiösen Minori­täten eigene Siedlungsgebiete zuwies und ihnen weit gehende rechtliche und konfessionelle Privilegien gewährte.

In den Rekonstruktionsphasen verfügten die zentralen Obrigkeiten noch nicht über einen Fundus verlässlicher Informationen über die Verhältnisse in ihren Herrschaftsgebieten. Sie waren deshalb auf die Mitwirkung der lokalen Amtsträger angewiesen, denen sich im Rahmen der Informationsbeschaffung durch Zeugenbefragung und eigene, letztlich nicht überprüfbare Lokalkenntnis ein weiter Handlungsspielraum eröffnete. Diese Phase, in denen die lokalen ‚Herr­schaftsvermittler’ große Freiheiten genossen, dauerte offenbar länger als zum Zeitpunkt der Antragstellung vermutet. Für Hessen brachten erst die Jahrzehnte zur Mitte des 18. Jahr­hunderts tiefe Veränderungen: Erst seither bewahrten die Zentralbehörden nicht nur die jährlichen Amtsrechnungen auf, sondern führten ämterweise Spezialakten nach Sachgesichts­punkten, die den Räten in Kassel ad hoc lokale Informationen gaben, ohne dass sie auf die Mitwirkung lokaler Amtsträger angewiesen waren. In der Herrschaft Neuhaus kam diese Innovation wohl bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zur Anwendung. Eine wichtige ‚Technologie’, die der Extraktion in herrschaftlichem Interesse diente, bildeten Urbare, die in allen drei Regionen im 17./18. Jahrhundert vorlagen. Diese Urbare auf aktuellem Stand zu halten, war ausgesprochen kompliziert und erforderte eine aufwändige Buchhaltung über Verkäufe, Schenkungen und Erbschaften. Verlässliche Kataster wurden erst seit dem Ende des 18. Jahr­hunderts erstellt: In den 1770er Jahren erfolgte die Vermessung und Kartierung des Amtes Grebenstein. In der Herrschaft Neuhaus und im Komitat Szatmár, dauerte es bis ins frühe 19. Jahr­hundert, bis eine vollständige Vermessung, Kartierung und Katastererfassung glückte.

c) Semantiken

Im Rahmen der Regionalprojekte werden die Quellen auch auf ihren Sprachgebrauch hin untersucht, um herauszufinden, auf welche als allgemein verbindlich geltende Normen verwiesen wird, welcher Wortgebrauch als legitim galt und mit welchen argumentativen Strategien die Beteiligten ihre Ziele verfolgten. Durch den Vergleich lassen sich möglicher­weise zeittypische, inner­halb Europas auch unter sehr verschiedenen gesellschaftlichen Umständen wirksame argumentative Muster isolieren. Diese Untersuchungen stehen erst am Anfang, werden aber in den verbleibenden zwei Jahren intensiv verfolgt.

Was den diachronen Wandel des Wortgebrauchs betrifft, sind lediglich erste Eindrücke zu formulieren. Im frühen 17. Jahrhundert scheint der „gute Haushalter“ einer der zentralen Begriffe gewesen zu sein, mit der positive, erwünschte Eigenschaften sowohl von lokalen Amtsträgers als auch von loyalen Untertanen benannt wurden. Der Untertan wandte sich an einen streng-gerechten Herren oder freundlich-milden Nachbarn und denunzierte ihn im Konflikt als pflichtvergessen und hartherzig. Im weiteren Verlauf des 17. Jahr­hundert scheint sich eine Hinwendung zu den Sprachformen der Patronage zu vollziehen, so dass die Welt voller huldvoller Gebieter, Beschützer, Freunde und geschworener Feinde war. Im 18. Jahr­hundert ist zumindest für Hessen-Kassel eine ‚Familialisierung’ der Bezeichnungen fest­zustellen, die hierarchische Unterschiede – im Zeichen ‚guter Policey’ und ‚wohlverstandener Aufklärung’ – weniger unverhohlen betonten, als in der Zeit davor. ‚Policierung’ schaffte jedenfalls für die Kommunikation zwischen Herrschaftsvertetern und Administrierten ein zusätzliches Feld, das nicht allein von sozialen Normen und lokalen Machtverhältnissen bestimmt war, sondern das den Rekurs auf alternative normative Begründungen und Verfahrensweisen eröffnete. Die Folge davon war wachsende gesellschaftliche Komplexität, da die Zahl verfügbarer Strategien und Koalitionen sich dramatisch vermehrte. Strukturell ähnelt das der Ausweitung des sittlich-religiösen Feldes im konfessionellen Zeitalter.

d) Verflechtung

Dem Projekt geht es um das Amtshandeln lokaler Amtsträger, das aber nicht ausschließlich aus der institutionellen Binnenperspektive gedeutet werden soll, sondern unter Berück­sichtigung ihrer Einbettung in soziale Netzwerke. Die Verflechtungsanalyse bildet den gemeinsamen methodischer Nenner der Regionalprojekte. Soziale Verflechtung konnte verschiedene Facetten aufweisen, sie konnte institutionell geprägt sein, aber auch auf verwandt­schaftlichen, freundschaftlichen oder klientelaren Beziehungen beruhen. Wir gehen von der Grund­annahme aus, dass diese sozialen Verflechtungen für die Amtsträger notwendig waren, wollten sie ihren Anweisungen Geltung verschaffen.

Die bisherige Arbeit zielte zunächst darauf ab, diese familiären, klientelaren und freund­schaftlichen Beziehungen der Amtsträger überhaupt zu identifizieren. Die drei Regional­projekte befinden sich mitten in diesen empirischen Forschungen, so dass valide Ergebnisse noch nicht vorgelegt werden können. Für alle Regionen zeichnet sich ab, dass die unter­suchten Amtsträger in engen familiären Beziehungen zu ihren Kollegen standen. Allerdings befanden sich diese Kontakte oftmals auf einem bestimmten Niveau des formalen und informellen Einflusses, so dass andere Beziehungsformen benötigt wurden, um größere hierarchische Distanzen zu überbrücken. Dabei scheint die kulturelle Praxis der Patronage im strengen Sinne, in dem sich ein Gefolgsmann explizit und für die soziale Umgebung auch erkennbar an einen Herren band, lediglich in der Welt des Adels Bedeutung erlangt zu haben. Zwischen lokalen Amtsträgern und machtvollen Herren scheinen andere Formen der Gestaltung des informellen Kontakts bevorzugt worden zu sein, die man nur in einem weiteren, funktionalen Sinn als klientelar bezeichnen kann.

5. Ausblick

Die Regionalprojekte haben sich dem gemeinsamen Gegenstand von verschie­denen Seiten genähert, in Hessen vom Lokalen, von Stadt und Amt Grebenstein her, während hier die zentralen Behörden, die Stände und das weitere Karrierefeld der landgräflichen Amtsträger noch der Untersuchung harren. In Ungarn sind dagegen bevorzugt die Komitate und ihre Amtsträger analysiert worden, während mit der Untersuchung der lokalen Ebene (freie und Mediatstädte, gutsherrschaftliche Verwaltung und Patrimonial­gerichte) erst begonnen wurde. Das böhmische Regionalprojekt hat zwar auf lokaler und regionaler Ebene zugleich angesetzt, hier stand jedoch bislang das 17. Jahrhundert im Zentrum, während die Untersuchung der Verhältnisse in Herrschaft und Stadt Neuhaus im 18. Jahrhundert noch in den Anfängen steckt. In den verbleibenden zwei Jahren werden sich die Regionalprojekte jeweils vor allem den noch ungeklärten Sachverhalten zuwenden.